Erdbeerkönigin
nehmen? Daniel wirst du dort nicht mehr finden.«
»Vielleicht gibt es dort noch Menschen, die ihn kannten.«
»Aber was soll dir das bringen?«
Das weiß ich selbst noch nicht genau, doch ich habe das unbestimmte Gefühl, dass ich diesen letzten Akt in Daniels Leben nicht ignorieren darf.
»Mein Kind, es tut mir leid, aber ich muss jetzt aufhören«, unterbricht Dr. Lenchens Stimme meine Gedanken.
»Sie haben noch eine Verabredung? Mit unserem Musiker?«
»Nein, nein, er hat sich selbst aus meiner Fürsorge entlassen. Aber er kennt meine Telefonnummer, er wird sich schon melden.«
»Was haben Sie denn jetzt vor?«
Dr. Lenchen antwortet stolz: »Gleich trifft sich unser Blockflöten-Ensemble.«
Dazu fällt mir nur ein zurückhaltendes »Aha« ein. Mit Blockflöten verbinde ich das Gefiepe im Kindergarten und hart an der Grenze zur Komik verlaufende Adventskonzerte in der Schulaula.
Aber Dr. Lenchen ist viel zu begeistert, um die Skepsis in meiner Stimme zu hören. »Wir nehmen das zwar ernst, aber vor allem soll es Spaß machen. Außerdem haben wir zwei wichtige Regeln aufgestellt.«
»Wichtige Regeln?«
Dr. Lenchen antwortet: »Erstens, wir reden nicht über Krankheiten, vor allem nicht über die eigenen. Und zweitens, wir reden nicht über die Vergangenheit.«
Das verstehe ich nicht. »Was ist denn an der Vergangenheit schlimm?«
»Nichts, aber wenn wir uns treffen, will ich nicht darüber sprechen, dass jemand früher Bankdirektor war und alle auf ihn gehört haben oder wie wichtig jemand anderer war. Alte Menschen müssen lernen, in der Gegenwart zu leben.«
Dr. Lenchen fährt fort: »Wir haben vor ein paar Jahren festgestellt, dass wir alle als Kinder Flöte gespielt haben.
Das
hat uns interessiert, nicht wer früher eine große Nummer war oder nicht. Und dann haben wir mit ein paar leichten Stücken begonnen. Jetzt spielen wir passabel auch vier- oder fünfstimmige Sätze. Und am Ende lassen wir es auch mal krachen.«
»Wie das denn?«
Dr. Lenchen zögert keine Sekunde. » AC / DC , Highway to Hell!«
»Auf der Blockflöte?«
Dr. Lenchen wiederholt selbstbewusst: »Auf der Blockflöte!«
Wie viele Krankenhäuser ist auch die Universitätsklinik ein großer Komplex, eine kleine Stadt für sich. Die Einwohner dieser Stadt sind sehr freundlich und zeigen mir den Weg in das sogenannte Cancer Center. Dort empfängt mich der vertraute Geruch von Desinfektionsmitteln. Auf den Schildern steht »Radiologie«, »Strahlentherapie«, »Tumorzentrum«. Ich bin nicht allein in dieser Stadt unterwegs. Daniel ist bei mir. Während ich über die Flure gehe, ist mir bewusst: Das alles hat Daniel gesehen. Er hat diese Schilder gelesen, ist diese Korridore entlanggegangen, als er hier behandelt wurde. Paradoxerweise löst sich mein Unbehagen sofort auf, als ich Krankenhausluft atme. Mir macht es Spaß, den Kollegen und Kolleginnen zuzusehen, die durch die Flure eilen, Patienten versorgen und Medikamente ausgeben.
Ich frage einen jungen Pfleger, ob er sich an den Patienten Daniel Eisenthuer erinnern kann. Bedauernd hebt er die Hände: »Ich bin neu hier.« Aber er verweist mich an die Oberschwester, die in einem kleinen Büro mit Glasfenster residiert. »Schwester Renate«, eine vom Leben offenbar gestählte Mittfünfzigerin – mit einer steilen Doppelfalte auf der Stirn und streng in einen Pferdeschwanz zurückgenommenem dunklem Haar –, ist zunächst ein wenig misstrauisch. Doch als ich Daniels Namen und den Anlass meines Besuchs erwähne, lächelt sie.
»Ach, der Herr Eisenthuer«, sagt sie melancholisch. »Das hat uns so leidgetan …« Sie verstummt.
Doch als ich erkläre, dass ich eine Kollegin bin und nichts von dem, was sie mir erzählen kann, öffentlich verwenden werde, steht sie auf, schließt die Tür hinter mir und bietet mir einen Kaffee an.
»Herr Eisenthuer war ein besonderer Mensch«, sagt sie und gießt Kondensmilch in ihre Tasse. »Großzügig, liebevoll. Wir haben alle gedacht, dass er es schaffen würde, aber … Sie wissen ja selbst, wie tückisch diese Krankheit sein kann. Doch Herr Eisenthuer war sehr gelassen. ›Schwester Renate‹, hat er gesagt, ›ich hatte ein wunderbares Leben. Ich würde zwar gern weiterleben, aber wenn das nicht geht, dann werde ich es akzeptieren.‹ Er war immer guter Laune.« Sie zeigt auf eine Reihe von Kinderzeichnungen, die an der Glastür hängen. »Er ist häufig in die Kinderabteilung gegangen und hat dort mit den Kindern gemalt. Er
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