Erdbeermond: Roman (German Edition)
Er hatte eine geballte Kraft in Schultern und Oberkörper, als würde er Gewichte heben. Vielleicht half ihm das.
»Viel Glück bei Neris«, sagte er. »Bis nächste Woche.«
EINUNDZWANZIG
Kaum war ich zu Hause, wählte ich Neris Hemmings Telefonnummer, aber eine Ansage auf Band teilte mir mit, dass das Büro von Montag bis Freitag, von neun bis sechs besetzt war. Ich schmiss den Hörer hin und schrie in einem dieser überraschenden Ausbrüche heftigsten Zorns: »Oh Aidan!«
Eine Tränenflut brach sich Bahn, und ich wurde geschüttelt von Frustration, Ohnmacht und dem riesigen, riesigen Bedürfnis nach ihm.
Ein paar Minuten später wischte ich mir das Gesicht trocken und murmelte: »Es tut mir Leid.«
Ich wiederholte: »Es tut mir Leid« vor jedem Foto von Aidan, das in der Wohnung stand. Er konnte nichts dafür, dass Neris Hemmings Büro am Sonntag nicht besetzt war. Und dies war ein langes Wochenende, wahrscheinlich war auch am Montag niemand da.
Ich würde am Dienstag vom Büro aus anrufen, beschloss ich. Ich hatte solche Angst, die Nummer zu verlieren, dass ich sie an verschiedenen, hoffentlich nicht zu offensichtlichen Stellen aufschrieb, für den Fall, dass jemand einbrach und alle Zettel mit Neris Hemmings Nummer stehlen wollte. Ich schrieb sie in meinen Kalender, ich schrieb sie auf eine Quittung, die ich in meiner Wäscheschublade versteckte, ich schrieb sie auf die Titelseite von Never Coming Back (Er kommt nie zurück? – Na, das wollen wir doch mal sehen, mein Fräulein) und ritzte sie in den Deckel der sehr alten Packung von Ben and Jerrys Ice Cream (der Stift schrieb auf dem gewachsten Papier nicht), die ich dann wieder in das Tiefkühlabteil des Kühlschranks stellte.
Und jetzt?
Ich stärkte mich für einen Anruf bei Aidans Eltern; Dianne hatte angerufen, während ich weg war. Irgendwie – und ich weiß wirklich nicht, wie es dazu gekommen war, denn es war das Letzte, was ich wollte – war es zur Gewohnheit geworden, dass sie mich jedes Wochenende anrief. Ich wählte ihre Nummer, kniff die Augen fest zu und betete immer wieder: Sei bitte nicht zu Hause, sei nicht zu Hause, bitte , aber – verdammter Mist – Dianne nahm ab. Sie seufzte: »Oh Anna.«
»Wie geht es dir, Dianne?«
»Nicht so gut, Anna. Ich bin bedrückt. Ich habe angefangen, über Thanksgiving nachzudenken.«
»Aber es ist erst Juli.«
»Ich will dieses Jahr kein Thanksgiving feiern. Ich habe überlegt, wie ich es irgendwie vermeiden könnte, vielleicht allein verreisen, irgendwohin, wo sie Thanksgiving nicht feiern. Es ist ein Familienfest. Und ich kann das nicht ertragen.«
Sie fing leise an zu weinen.
»Das eigene Kind zu verlieren, ist der schrecklichste Schmerz. Du wirst einen anderen kennen lernen, Anna, aber ich werde meinen Jungen nie wieder sehen.«
Etwas Ähnliches hatte sie jedes Mal gesagt, wenn wir gesprochen hatten. Sie wetteiferte mit mir, wer von uns beiden tiefer trauerte: Wer hatte das größere Recht, am Boden zerstört zu sein? Die Mutter oder die Ehefrau?
»Ich werde keinen anderen kennen lernen«, sagte ich.
»Aber du könntest es, Anna, das will ich damit sagen, du könntest es.«
»Wie geht es Mr. Maddox?« Ich konnte seinen Vornamen einfach nicht aussprechen.
»Er kommt auf seine Art zurecht. Vergräbt sich in die Arbeit. Ich würde von einem Dreijährigen mehr emotionale Unterstützung bekommen.« Sie lachte, und es klang irgendwie beängstigend. »Weißt du, ich bin fertig mit der Welt.«
Ich war mir ziemlich sicher, was als Nächstes kommen würde. Es war die uralte Geschichte. Sie würde zu einem Frauenwochenende fahren, wo sie alle nackt herumrannten, sich mit blauer Farbe beschmierten, die weibliche Gottheit verehrten und stolz darauf waren, dass ihre Brüste bis zum Bauchnabel hingen. Und wenn sie nicht gerade bei Vollmond auf einer Lichtung tanzten, dann machten sie sich über die Männer lustig, sodass Dianne, wenn sie wieder in Boston war, aufhören würde, sich den Haaransatz nachzufärben und Mr. Maddox das Essen zu machen. Vielleicht würde sie sich sogar eine Harley und einen Bürstenhaarschnitt zulegen und an der Lesben-Demo bei der Gay Pride Parade teilnehmen.
»Ich muss jetzt Schluss machen, Dianne. Pass gut auf dich auf. Wir sprechen ein andermal über die Asche.« Das hatten wir immer noch nicht geklärt.
»Ja«, sagte sie erschöpft. »Ist gut.«
Wieder für eine Woche erledigt! Welche Erleichterung! Ich fühlte mich frei und leicht und rief Mum an. Ich musste
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