Erdbeermond: Roman (German Edition)
sie so, als wäre es ihnen nicht höchst peinlich, und begrüßten mich freudig, und einer sagte: »Hier kommt das Geburtstagskind!« Jemand gab mir eine Sektflöte, und ich versuchte, den Inhalt in einem Zug zu leeren, aber die Glasöffnung war so klein, dass ich meinen Kopf ganz tief in den Nacken legen musste, und das Glas saugte sich an meinem Gesicht fest und hinterließ einen kreisrunden Abdruck auf meinen Wangen und auf der Nase.
Alle lächelten und sahen mich an – die Leute waren immer entweder übertrieben fröhlich oder übertrieben besorgt, niemand war normal –, und mir fiel absolut gar nichts ein, was ich hätte sagen können. Dies hier war noch viel schlimmer, als ich mir vorgestellt hatte. Ich hatte das Gefühl, in der Mitte der Welt zu stehen, während alle Menschen und Dinge immer weiter zurückwichen.
»Wollen wir uns setzen?«, schlug Rachel vor.
Mir tat mein Kiefer vom vielen Lächeln weh, und als wir saßen, nahm ich ein Glas – ich war mir nicht sicher, ob es meins war, aber ich konnte mich nicht beherrschen – und trank so viel daraus, wie ich konnte, ohne dass es wieder an meinem Gesicht festklebte. Bisher hatte ich von größerem Alkoholkonsum abgesehen, weil ich befürchtete, es würde mir zu gut gefallen. Es sah ganz so aus, als hätte ich Recht gehabt.
Ich wischte mir klebrige Champagnertropfen vom Kinn, als ich bemerkte, dass ein Kellner geduldig neben mir stand und darauf wartete, mir eine Speisekarte reichen zu können. »Oh Gott, Entschuldigung, danke«, murmelte ich und dachte: Sei normal, sei normal. Jacqui erzählte mir, wie schwierig es sei, einen Labradoodle zu bekommen, dass es kaum welche gebe und sie auf dem Schwarzmarkt verkauft würden, und dass einige sogar ihren Besitzern gestohlen und weiterverkauft worden seien. Ich versuchte mich auf ihre Geschichte zu konzentrieren, aber schräg gegenüber saß Joey und sang Uptown Girl mit einem anderen Text, der auf Jacqui gemünzt war. »Wannabe Girl, she only hangs around with the rich and the famous, she wishes she lived in Trump-Towers, so her and Donald could be best buddies …«
Er war sehr unhöflich – an sich war das nichts Ungewöhnliches –, aber er legte sich dabei mächtig ins Zeug. Normalerweise konnte er nicht zum Singen überredet werden. Dann hatte ich die Erleuchtung – oh Gott … er war scharf auf Jacqui.
Wann hatte das angefangen?
Jacqui hatte Übung darin, so etwas zu ignorieren, aber meine Nerven lagen blank, sodass ich nicht anders konnte, als zu sagen: »Joey, könntest du bitte aufhören?«
»Wa-? Oh Mann, Entschuldigung.«
Ich konnte mir eine Menge leisten: Alle mussten nett zu mir sein. Es war ungewiss, wie lange das anhalten würde, ich muss also das meiste draus machen.
»Liegt an der Stimme, oder?«, sagte Joey. »Null musikalisches Gehör. War schon immer so. Wenn die Leute gefragt werden, was sie sich wünschen, sagen die meisten, sie wollen unsichtbar sein. Aber ich, ich möchte singen können.«
Am Nachbartisch saß eine junge, schöne Frau, die meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie war typisch für New York – mit eleganter, farblich abgestimmter Kleidung und glänzendem, füllig geföhntem Haar. Sie lächelte und sprach lebhaft mit dem langweilig aussehenden Mann neben ihr, und ihre manikürten Hände flogen hin und her, um das zu unterstreichen, was sie sagte. Mein Blick heftete sich auf ihre Bluse, die sich bei jedem Atemzug hob und senkte. Hob und senkte. Hob und senkte. Hob und senkte. Hob und senkte. Hob und senkte. Hob und senkte. Hob und senkte. Hob und senkte. Hob und senkte. Hob und senkte. Atmen, am Leben bleiben. Und eines Tages würde sie nicht mehr weiteratmen. Eines Tages würde etwas passieren, und ihre Brust würde sich nicht mehr heben und senken. Sie wäre tot. Ich dachte an all die Sachen, die mit dem Lebendigsein zu tun hatten und die unter ihrer Haut vor sich gingen – ihr Herz pumpte, und ihre Lungen füllten sich, und das Blut floss –, und wie das alles zustande kam und warum es plötzlich aufhörte …
Langsam wurde mir bewusst, dass alle mich ansahen.
»Ist alles in Ordnung, Anna?«, fragte Rachel.
»… eh …?«
»Es ist nur – du hast die Frau so angestarrt.«
Oh Gott, ich hatte mich nicht in der Gewalt. Was sollte ich sagen? »Ja, … ich habe überlegt, ob sie Botox gespritzt hat.«
Alle drehten sich nach der Frau um.
»Natürlich, keine Frage.«
Ich fühlte mich beschissen. Nicht nur, weil ich mir sicher war, dass die Frau keine
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