Erdbeermond: Roman (German Edition)
dass er immer um mich sein würde. Andere Menschen, die Verluste erlitten haben, erzählen von ähnlichen Begebenheiten …
Ich legte das Buch hin und sah mich um. Wo war mein Schmetterling?
Vier oder fünf Wochen waren seit meiner frühmorgendlichen Unterhaltung mit Rachel in Jenni’s Café vergangen, und alles war mehr oder weniger gleich. Ich arbeitete immer noch den ganzen Tag, ich brachte immer noch wenig zustande, was irgendetwas taugte, ich schlief immer noch auf dem Sofa, und Aidan war immer noch tot.
Ich hatte mir den Tag schön eingerichtet: Ich wachte bei Morgengrauen auf und rief Aidans Handy an, dann ging ich zur Arbeit und arbeitete zehn Stunden, kam nach Hause und rief Aidan wieder an und dachte mir komplizierte Fantasien aus, in denen er nicht gestorben war, weinte ein paar Stunden, nickte ein, wachte auf und fing von vorn an.
Das Weinen war mir ein großer Trost, aber es war nicht leicht, eine gute Zeit dafür zu finden, weil mein Gesicht so lange brauchte, bis es sich wieder normalisierte. Morgens war schlecht, weil ich dann schrecklich aussah, wenn ich zur Arbeit kam. Mittags war auch nicht gut, aus den gleichen Gründen. Aber die Abende eigneten sich dazu. Deshalb freute ich mich auf die Abende.
Ich überstand jeden Tag, und das Einzige, was mich aufrecht hielt, war der Gedanke, dass der morgige Tag besser sein würde. Aber er war es nicht. Jeder Tag war wie der vorherige. Schrecklich, unvorstellbar, so als hätte ich mich in der Tür zur Wirklichkeit geirrt: Alles in meinem Leben war genauso wie immer, nur eine entscheidende Sache war anders.
Ich hatte gehofft, dass meine Rückkehr nach New York und mein normales Leben mit Arbeit und Freunden den Alptraum vertreiben würden. Das war aber nicht der Fall. Arbeit und Freunde waren einfach Teil des Alptraums geworden. An dem Morgen war ich wie jeden Morgen entsetzlich früh aufgewacht. Dann gab es immer einen winzigen Moment, in dem ich überlegte, was das Schreckliche war. Dann fiel es mir ein.
Ich legte mich wieder hin und spürte einen dumpfen, hartnäckigen Schmerz in meinen Knochen, so wie ich mir Rheuma oder Arthritis immer vorgestellt hatte. Als die Schmerzen anfingen, dachte ich, ich hätte einen Virus oder es seien die Nebenwirkungen des Unfalls, aber der Arzt erklärte mir, dass ich die »körperlichen Schmerzen von Trauer« erfahren würde. Und dass das »normal« sei. Ich war schockiert. Ich hatte mit emotionalen Schmerzen gerechnet, aber körperliche Schmerzen, das war mir neu.
Außerdem sah ich furchtbar aus: Meine Nägel waren rissig, mein Haar war matt und glanzlos und hatte Spliss, und obwohl ich alle Reinigungscremes und Feuchtigkeitscremes, die man sich nur wünschen konnte, zur Hand hatte, schuppte sich meine Haut.
Ich schluckte zwei Schmerztabletten, schaltete den Fernseher an, fand aber nichts, was meine Aufmerksamkeit fesselte, und griff zu Never Coming Back . Toller Titel, dachte ich. Richtig fröhlich. Das würde die Lebensgeister der Trauernden wieder in Schwung bringen.
Es war eins von einer wahren Flut von Büchern – sie kamen mit der Post von Claire in London, sie wurden mir von Ornesto vor die Tür gelegt oder persönlich überreicht von Rachel, Teenie, Marty, Nell, selbst von Nells seltsamer Freundin –, und obwohl meine Konzentration kaum für einen Absatz reichte, fiel mir auf, dass das Schmetterlingsmotiv häufig vorkam. Doch für mich gab es keine Schmetterlinge.
Seltsam, aber ich mochte Schmetterlinge nicht besonders. Es war schwierig, das zuzugeben, weil jeder Schmetterlinge mochte, und wenn man sie nicht mochte, war das so, als würde man sagen, man mochte Michael Palin nicht oder Delfine oder Erdbeeren. Ich fand Schmetterlinge irgendwie hinterlistig; sie waren nichts weiter als Motten in prächtigen Kostümen. Und obwohl Motten eklig waren und mit den Flügeln ein unangenehmes papierenes Geräusch machten, waren sie wenigstens ehrlich: Sie waren braun und langweilig und außerdem dumm (was man daran sah, dass sie in offene Flammen flogen). Insgesamt hatten sie keine besonders attraktiven Seiten, aber sie gaben auch nicht vor, etwas zu sein, was sie nicht waren.
Und was war das für eine Frau, mit einem Mann, der alles kontrollieren wollte? »Aber, aber« – also wirklich! Sie konnte froh sein, dass sie ihn los war! Und wie konnte ich einer Frau glauben, die etwas als »unübertrefflich« schön beschrieb?
Dennoch, seit ich diese Bücher las, hielt ich überall Ausschau nach Schmetterlingen oder
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