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Erdbeermond: Roman (German Edition)

Erdbeermond: Roman (German Edition)

Titel: Erdbeermond: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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Tauben oder fremden Katzen, die vorher nicht da gewesen waren. Ich suchte verzweifelt nach einem Zeichen, dass Aidan noch bei mir war, aber bisher hatte ich nichts entdeckt. Die Menschen sagen, es sei die Endgültigkeit des Todes, mit der sie nicht zurechtkommen. Aber mich trieb die Frage um, wo Aidan war. Ich meine, er musste doch irgendwo sein.
    All seine Meinungen und Gedanken und Erinnerungen und Hoffnungen und Gefühle, all das, was ihn einzigartig, was ihn zu einem unverwechselbaren Menschen gemacht hatte, konnte doch nicht einfach weg sein.
    Ich verstand, dass das, was ihn zu Aidan gemacht hatte, nicht mehr in seinem verbrannten Körper untergebracht war, aber seine Persönlichkeit oder sein Geist – wie immer man es nennt – konnte doch nicht ausgelöscht sein. Er hatte eine zu deutliche Präsenz gehabt, als dass er einfach verschwinden konnte. Dass er Der Fänger im Roggen nicht mochte, obwohl alle anderen es toll fanden; sein komischer Gang, weil sein eines Bein etwas länger war als das andere; wie er beim Rasieren sang. Er war so lebendig, so voller – ja – Leben, er musste einfach irgendwo sein, es ging nur darum, ihn zu finden.
    Ich sah ihn immer noch auf der Straße, bloß akzeptierte ich jetzt, dass es nicht er war. Ich las immer noch sein Horoskop. Ich redete in meinem Kopf immer noch mit ihm. Ich schickte ihm Mails und rief ihn an, aber ich begriff, dass er sich nicht melden würde. Aber an manchen Tagen vergaß ich, dass er tot war. Ich meine, wirklich nur für einen Moment, meistens wenn ich von der Arbeit nach Hause kam und plötzlich darauf wartete, dass er zur Tür hereinkommen würde. Oder es passierte etwas Lustiges, und ich dachte: Das muss ich Aidan erzählen. Und dann packte mich das Entsetzen – mir brach der Schweiß aus, schwarze Punkte tanzten mir vor den Augen –, das Entsetzen, weil er nicht mehr da war. Weggewischt von dieser Erde, abgeschnitten von diesem Lebendigsein und jetzt an einem Ort, wo ich ihn nicht finden konnte.
    Bislang hatte ich immer gedacht, das Schlimmste, was passieren konnte, sei, wenn jemand, den man liebt, plötzlich verschwindet. Aber das hier war schlimmer. Wenn er im Gefängnis säße oder entführt worden wäre, hätte ich die Hoffnung, dass er irgendwann zurückkommen würde.
    Und dann meine Schuldgefühle , sie waren unerträglich. Sein Leben war so brutal und so verfrüht beendet worden, und ich lief immer noch herum und arbeitete, und mir stand alles offen. Sein Körper hatte die volle Wucht des Aufpralls abbekommen, sodass ich das Gefühl hatte, er sei gestorben, damit ich leben konnte, und das war ein furchtbares Gefühl. Als hätte ich ihn um den Rest seines Lebens betrogen; deshalb dachte ich, es wäre besser, wenn ich auch gestorben wäre, weil ich mich so schämte, mein Leben zu leben, und er war tot.
    Ich stellte mir oft vor, dass er noch lebte. Dass er in einer parallelen Welt nicht gestorben war – dass das Taxi uns nicht in die Seite gefahren war, dass unser Leben normal weiterging und wir glücklich unsere uns zustehenden vierzig Jahre miteinander verlebten, in Unkenntnis des knappen Entkommens und der Schmerzen, die uns erspart geblieben waren. Ich malte mir alles in unglaublichen Einzelheiten aus – was wir anhatten, wann wir zur Arbeit gingen, was wir mittags aßen – und nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, waren diese Fantasien meine Begleiter.
    Aber was war mit ihm? Was empfand er? Der Gedanke, dass er das, was er durchmachte, allein durchmachen musste, war für mich furchtbar, und ich wusste, dass er sich größte Mühe geben würde, mit mir in Kontakt zu treten. Wir hatten ganz eng zusammengelebt, wir hatten uns zehnmal am Tag Mails geschickt, wir hatten jede Minute unserer Freizeit zusammen verbracht, sodass er da, wo er war, die Trennung so schrecklich finden musste wie ich. Ich hätte alles gegeben, um zu wissen, wie es ihm ging.
    Wo bist du?
    Bei der Beerdigung sprach der Pfarrer davon, dass Aidan »an einen besseren Ort« gegangen sei, aber das war Unsinn. So ein Unsinn, dass ich es damals laut herausschreien wollte, aber ich war bandagiert und mit Beruhigungsmitteln voll gepumpt und umgeben von der Familie, sodass ich es nicht konnte.
    Bis dahin war ich mit dem Tod kaum in Berührung gekommen. Die anderen, die gestorben waren, waren meine Großeltern, und da erwartet man nichts anderes, sie waren alt, es war richtig so. Aber Aidan war jung und stark und sah gut aus, und alles war verkehrt.
    Als meine Großeltern

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