Erdbeermond: Roman (German Edition)
glaub bloß nicht, dass du mich ablenken kannst. Ich bin hier, weil ich mir Sorgen um dich mache. Du kannst dich nicht hinter deiner Arbeit verstecken und so tun, als sei nichts geschehen. Du musst die Gefühle zulassen. Wenn du die Gefühle zulässt, geht es dir besser. Hast du eine Cola light?«
»Ich weiß nicht. Guck doch mal im Kühlschrank. Hast du was mit deinen Augenbrauen gemacht?«
»Ich hab sie mir färben lassen.«
»Sieht gut aus.«
»Danke. Wegen der Hochzeit. Um auszuprobieren, ob ich allergisch bin. Ich will nicht, dass mein Gesicht aufgedunsen ist, wie bei einer großen, dicken Flunder.« Sie blieb stehen und lauschte. »Was ist das für ein Getöse?«
Aus einer anderen Wohnung hörte man jemanden brüllen: »Gooooooooaaaaald-finGAH!«, so laut es irgend ging.
»Das ist Ornesto. Er übt.«
»Was denn? Wie er einem Angst einjagen kann?«
»Gesang. Er nimmt Gesangsunterricht. Sein Lehrer sagt, er hat Talent.«
»Hieeza maaaan, maaaan wida MidasTORCH!«
»Macht er das oft?«
»Fast jeden Abend.«
»Kannst du dabei schlafen?« Rachel war ein bisschen neurotisch in Sachen Schlaf. Aber es hatte keinen Sinn, ihr zu erklären, dass ich sowieso kaum schlief.
»BUT HEEZ TOO MATSCHHH!«
»Hast du eine Cola light gefunden?«
»Nein. Im Kühlschrank ist nichts. Gähnende Leere. Anna, du musst zu einem Therapeuten.«
»Der mir hilft, Cola zu kaufen?«
»Humor ist ein klassisches Ablenkungsmanöver. Ich kenne eine sehr liebe Trauerberaterin. Sehr professionell. Sie wird mir nichts weitererzählen, das verspreche ich dir. Ich werde auch nicht fragen.«
»Gut, ich gehe zu ihr.«
»Wirklich? Toll!«
»Ich gehe, wenn es mir besser geht.«
»Oh Anna! Genau das meine ich doch! Ich sehe, dass du schuftest wie ein Tier, um zu vergessen …«
»Nein! Ich will nicht vergessen!« Das war ein schrecklicher Gedanke; es war das Letzte, was ich wollte. »Ich versuche …« Wie sollte ich es ausdrücken? »… ich versuche, so viel Zeit vergehen zu lassen, dass ich mich erinnern kann.« Ich hielt inne, sprach dann weiter. »Damit ich mich erinnern kann, ohne dass der Schmerz mich umbringt.«
Und die Tage verrannen wirklich. Die Wochen. Und die Monate. Jetzt war es fast Mitte Juni, und Aidan war im Februar gestorben, aber es fühlte sich immer noch an, als wäre ich aus einem schrecklichen Traum aufgewacht, als würde ich in einem gelähmten Zustand zwischen Schlaf und Wirklichkeit schweben, wo ich die Wirklichkeit zu fassen suchte, sie sich mir aber entzog.
»Za minnit ya WOKED inna joint! Ah could DELL you were MAAAAN of extinction, a REEL big zzzpendah!«
»Oh Gott, jetzt singt er wieder.« Rachel blickte bekümmert zur Zimmerdecke. »Ich weiß nicht, wie du das aushältst, ich weiß es wirklich nicht.«
Ich zuckte die Achseln. Eigentlich mochte ich es ganz gern. So hatte ich Gesellschaft, ohne Ornesto tatsächlich sehen zu müssen. Oft klopfte er bei mir an, aber ich machte nie auf, und wenn wir uns im Hausflur trafen, erklärte ich ihm, dass ich Schlaftabletten nahm und ihn deshalb nie hörte. Es war besser, zu lügen: Er war so leicht beleidigt.
»Ich muss dich noch was fragen«, sagte Rachel. »Denkst du manchmal an Selbstmord?«
»Nein.«
Ich musterte Rachels besorgtes Gesicht. »Warum? Sollte ich?«
»Also … ja. Normalerweise hat man das Gefühl, dass es keinen Sinn hat, weiterzumachen.«
»Ich mache aber auch alles verkehrt.«
»Sag so was nicht. Aber weißt du, warum du nicht an Selbstmord denkst?«
»Weil … weil … wenn ich tot wäre, wüsste ich nicht, wo ich landen würde. Ob ich an den gleichen Ort käme, wo Aidan ist. Solange ich hier bin, fühle ich mich ihm nah. Kannst du das verstehen?«
»Du hast also daran gedacht?«
Die Vorstellung, nicht mehr zu leben, lauerte dauernd am Rande meines Bewusstseins. Nicht so, dass ich irgendwelche Pläne gemacht hätte, aber der Gedanke war da. »Ja, eigentlich schon.«
»Dann ist es ja gut. Das beruhigt mich.« Sie war offensichtlich erleichtert. »Gott sei Dank.«
»HAYYY big zzzpendah!«
»Soll ich dir Ohrstöpsel besorgen?«
»Nein, danke, ist nicht nötig.«
»Zzzpend a liddle dime with meee. BambambabambamBAM!«
»Gott. Ich gehe. Lass uns am Abend mal essen gehen.«
»Am Mittwoch treffe ich mich mit Leon und Dana«, sagte ich schnell.
»Gut, sehr gut. Am Wochenende bin ich nicht da, ich fahre zu einer Fortbildung, aber wie wär’s mit Donnerstagabend? Ja?«
Sie bestand darauf, dass ich nickte: Ja.
»Bis dann.«
Ich legte
Weitere Kostenlose Bücher