Erdbeermond: Roman (German Edition)
mich aufs Sofa und versuchte wieder in die Stimmung zu kommen, wo ich weinen konnte. Über mir grölte Ornesto weiter seine Songs, und das weckte die Erinnerung an Abende, als Aidan und ich zusammen gesungen hatten. Nichts Ernstes – überhaupt nicht –, sondern Selbsterfundenes, und es machte uns solchen Spaß. Wie an dem Abend, als wir uns von Balthazar was zu essen bringen ließen und ich geradezu euphorisch war.
»Ist es nicht erstaunlich?«, schwärmte ich. »Balthazar ist eins der nettesten Restaurants in New York – nein, Quatsch, eins der nettesten Restaurants in der ganzen Welt –, und sie sind nicht zu eingebildet, dir das Essen nach Hause zu bringen.«
»New York ist eine tolle Stadt«, sagte Aidan.
»Das stimmt«, sagte ich. »In Irland würdest du so etwas nicht finden.«
»Warum gibt es dann so viele Lieder darüber, wie traurig es ist, Irland zu verlassen?«
»Entre nous, mon ami, ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich glaube, die sind alle komplett verrückt.«
Aidan, der zu der irischen Diaspora in Boston gehörte, kannte die traurigen Auswandererlieder und fing an zu singen: »›Als ich so lag und träumte, da träumte ich von Spancil Hill.‹« Vielleicht hatte er sogar eine recht gute Stimme, aber ich konnte es nicht einschätzen, denn er sang mit seiner Schlumpfstimme, obwohl er nicht beim Rasieren war.
»›Ich träumte, dass ich dort sei, das war mir glatt zu viel.‹«
»So geht der Text nicht.«
»… ›Ich traf den Schneider Quigley, er saß auf ’nem Ballen Twill, er flickte meine Hose, als ich lebte in Spancil Hill.‹«
Jetzt ließ er das mit der Schlumpfstimme und legte sich voll ins Zeug.
»›Doch das mit dem Flicken, das ist vorbei,
ist die Hose durch, weiß ich jetzt einen Trick.
Ich kaufe mir ein neues Paar
bei der Banana Repub-a-lik.‹«
»Hurra!«, sagte ich, klatschte in die Hände und versuchte zu pfeifen. »Weiter!«
»›Und braucht die Anna ein neues Paar‹ …« Er streckte den Arm in einer dramatischen Geste aus.
»… ›lässt sie Schneider Quigley links liegen,
denn schöne Hosen in lustigen Farben,
die kann sie im Club Monaco kriegen.
Da gibt es Taschen und Kleider und Schmuck
und vieles andere mehr,
zu günstigen Preisen, so hab ich gehört,
aber leider reimt sich das nicht sehr.‹«
»Bravo!«, rief ich. »Wie die Iren nicht sagen. Encore!«
»Gut. Letzte Strophe. Sehr traurig.« Er ließ den Kopf hängen und sang fast flüsternd:
»›Am Morgen weckten mich die Sirenen,
sie tönten laut und schrill,
und ich wachte auf in New York City
und war froh, es war nicht Spancil Hill.‹«
Aidan verneigte sich tief, dann rannte er in unser Schlafzimmer.
»Komm zurück!«, rief ich. »Es macht so viel Spaß.«
»So was kann man nur singen, wenn man einen scheußlichen Pullover anhat.«
Er kam in dem scheußlichsten Aran-Pullover wieder, den man je gesehen hat. Es war ein Hochzeitsgeschenk von Tante Imelda, Mums zweifellos ehrgeizigster Schwester. (Mum behauptete: »Sie wusste, dass er scheußlich ist.«) In dem Pullover sah Aidan aus, als hätte er einen Bierbauch.
»Setzt du die auf?« Er schwenke eine Tweedmütze vor mir. (Auch sie war von Tante Imelda.)
»Aber natürlich. Jetzt bin ich dran.« Zu derselben Melodie sang ich:
»›Zu Hause im County Claa-are,
meine Liebste wartet auf mich.
Doch hier in New York City
lieb ich eine andere zärt-e-lich.
Meine Liebste in County Clare,
sie war mein Bäselein,
und hätten wir ein Kind bekommen,
so hätte es zwölf Fingerlein.‹«
»Gott, du bist richtig gut«, sagte Aidan. »Du hast Rhythmus! Du kannst reimen! Aus dem Stegreif!« Mit komischen Rapper-Handbewegungen und -Kniebeugen sang er: »Ich bin Ire, lebe in der Ferne, treff mich mit anderen Iren, die sind hier auch nicht gerne. Was soll ich sagen, ich will nicht klagen, ich kann das hier ertragen, mit mein’m Geländewagen, die Fenster schwarz verkleistert, mit dem ich durch die Gegend geister. Und das mit dem Essen, das kann man doch vergessen, ich habe Kohle, kann mir schnell was holen, kann ich mir doch leisten, Balthazar vom Feinsten.«
Den ganzen Abend erfanden wir Lieder darüber, dass New York viel besser als Irland war und dass wir nicht traurig waren, auf der anderen Seite des Meeres zu sein. Die meisten reimten sich nicht, aber sie waren lustig. Wenigstens wir fanden sie lustig.
SECHS
Vor Diego’s stiegen Leon und Dana aus einem Taxi, während ich den Fahrer von meinem bezahlte. Perfekt abgestimmt. So war es
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