Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
zurücklegen, anstatt sich einfach immer östlich zu halten und erst auf dem richtigen Längengrad das Lenkrad gen Norden zu drehen. Täten wir das, müssten wir Weißrussland durchqueren, und diesen Staat meidet er lieber. Es sei dort zurzeit nicht sicher. Es geht um Öl- und Gasstreitigkeiten und doch eigentlich um Volksstolz. Also brausen wir mit dem Landrover über die Landstraßen Litauens. Dreihundertfünfzig Kilometer haben wir schon hinter uns gebracht. Heute Morgen waren wir noch in Warschau, Frühstück im Polonia Palace, und jetzt ziehen bereits die baltischen Wälder und Felder an uns vorbei. Im iPod spielen Abuela Coca aus Uruguay eine heitere Mischung aus Latin Rock und Ska. Khaled hat keine Lust, litauische Musik zu hören, bloß weil wir gerade durch das Land fahren. Er möchte etwas, das zur Sonne passt, die das Gras vor den Fenstern so grün färbt, als hätte ein Kind in einem Werbespot beim Vorbeifahren die Landschaftsflächen wie in einem Malbuch ausgefüllt. Khaled pfeift und tippt mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Eine Sonnenbrille von Ray-Ban bedeckt seine Augen. Es kommt vor, dass er hundert Kilometer lang überhaupt nichts sagt, ohne dass man sich zum Sprechen gezwungen fühlt. Ich sitze wieder hinten, auf der Rückbank, die Beine hochgelegt, eine Decke darüber. Ich werfe sie zur Seite, nehme die Füße vom Polster, stelle sie das erste Mal während des Fahrens auf den Boden und sage: »Wie kann das hier so schön sein?«
Khaled macht wieder seinen Rückspiegelblick. »Wie meinst du?«
Ich zeige nach draußen: »Ja, hier, Litauen!«
»Wie soll Litauen aussehen?«, fragt Khaled.
Ich erinnere mich daran, wie ich einmal krank war und tagelang Fieberträume hatte. Mein Mitbewohner versorgte mich mit Tee und Tabletten. Große, weiße Antibiotika-Pillen, die ich nicht schlucken konnte, ohne zu würgen. In meinem Fieberwahn träumte ich von einem Krankenhaus in einer verfallenen, eiskalten Gegend. Ich lag draußen im Frost und beobachtete, wie drinnen im Warmen die Patienten auseinandermontiert wurden wie Androiden. Kupfer, Draht und der Geruch nach Korrosion und Eisen. Ich war gelähmt, und immerfort stopften mir junge Soldaten weiße Pillen in den Mund, bis mir die Zähne ausfielen. Die Szene spielte in Litauen. Ich träumte sogar das Wort dazu, Litauen . Es schallte in meinem Kopf.
»Du schläfst?«, sagt Khaled und dreht sich zu mir um, um festzustellen, dass ich nur tagträume. Oder besser: tagalbträume. Er fragt mich noch mal, jovial lächelnd: »Wie soll Litauen aussehen?«
Ich sage: »Ich weiß nicht genau. Grau. Alt. Mit Pfützen.« Ich denke an meinen Traum. An apokalyptische Videospiele, in denen es immer Nacht ist und die Fensterscheiben der Ruinen Risse wie Spinnennetzmuster haben.
»Nichts grau, du siehst?«, lacht Khaled, und die saftigen Weiden spiegeln sich in seiner Sonnenbrille. Ich sehe in mich hinein, in meine innere Landkarte der Welt, und muss feststellen, dass ich mir sämtliche Länder dieser Art so vorstelle. Litauen. Lettland. Usbekistan. Ich habe studiert, jahrelang. In den ersten Semestern habe ich nachts bunte Farbbeutel an die Fenster von Burschenschaften geworfen, um ihnen ihr rassistisches Schwarzweißdenken auszutreiben, und jetzt fahre ich durch das sonnengegerbte Litauen und muss mir eingestehen, dass ich bis heute alle Oststaaten pauschal für die Endzeitkulisse aus Fallout hielt, in der lallende Zombies aus verfallenen Gebäuden wanken.
Es ist halb acht abends, als wir das Kungis Inn im Küstenkurort Palanga erreichen. Niemand wankt. Niemand lallt. Der Mann, der aus der Tür tritt, als Khaled den Kofferraum öffnet, breitet stattdessen die Arme aus, ruft »Khaled!!!« und grüßt meinen Reiseleiter in der Landessprache. Khaled grüßt in selbiger zurück, ruft »Kasimir!« und zieht statt einer Schrotflinte gegen lallende Zombies eine Flasche Portwein aus dem Wagen. Kasimir nimmt sie dankend an und klopft Khaled an den Oberarm, weil er die Schulter mangels Körpergröße nicht erreichen kann. Es wirkt, als sei die Flasche eine alte Wettschuld. Die Männer lachen.
»Das ist Kasimir«, sagt Khaled. »Großer Bandit.« Er überlegt kurz, ob er diese Einschätzung relativieren muss. Dann schüttelt er den Kopf. »Großer Bandit, keine Frage!«
Heute Morgen waren wir noch in Warschau. Jetzt stehen wir 640 Kilometer weiter nördlich vor einem Hotel an der Ostsee, einem kleinen weißen Bau, umgeben von kräftigen Kiefern. Vom Meer kommt ein leichter
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