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Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)

Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)

Titel: Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Uschmann , Sylvia Witt
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Ebenen steigen. Es würde reichen, kraftvoll gegen einen Pfeiler zu treten, bis es knackt und man unter vier Stockwerken aus Beton und morschem Gitterdraht begraben wird.
    Ich frage mich, wo er es versuchen könnte, und laufe auf dem Campus zu den Gebäuden hinab, in denen Hartmut studiert hat. Nestor hat ungefähr das Gleiche gelernt. Philosophie, Literatur: Alles, was die Leute bekloppt macht, so dass sie nur noch mit Worten, aber nicht mehr mit dem Leben umgehen können. Ich suche beim Rennen die Balkone des GB-Gebäudes mit den Augen ab, doch sie verschwimmen. Der gelbe Koloss wirkt noch riesiger, als er ohnehin schon ist. Es könnte eine Zwölf-Meter-Yacht an seiner Flanke kleben, sie würde so winzig wirken wie ein Fensterbild aus Zuckerguss. Hartmut hat mir erzählt, dass seit Jahren niemand mehr auf die Balkone darf. Alle abgeschlossen, selbst für das Personal. Nur noch wenige Restschlüssel sollen existieren, aus grauer Vorzeit, als Windows 95 erschien und die Studenten die Standorte eines Buches noch in Zettelkästen nachschlugen. Die Haupteingangstür lehnt nur an. In einem Glaskastenraum ganz hinten am Ende des langen Ganges gestikuliert ein Dozent, der ein Wochenendseminar gibt.
    Ich laufe ins Gebäude und drücke die Aufzugtasten vor den Toiletten, die Hartmut so liebte. Irgendwas sagt mir, dass Nestor hier ist, in seiner alten Heimat, wo die Texte noch kompliziert sind und man die Bücher, über die man spricht, wenigstens theoretisch gelesen haben muss. Die Klos stinken immer noch »drakonisch«, wie Hartmut es nennt. Wie tausend Jahre in Pisse eingeweichtes Linoleum. Der Aufzug kommt, und ich fahre in den achten Stock. Hier unter dem Dach sitzen die Romanisten. Sie befassen sich mit Spanisch, Französisch und Italienisch. Früher habe ich geglaubt, Romanisten würden Romane interpretieren. Was hat Hartmut gelacht! Nestors Fachrichtung sitzt zwar vier Stockwerke tiefer, aber wenn er springen will, wird er das höchste Stockwerk wählen. Der Aufzug hält im sechsten Stock, und eine einsame Gelehrte blickt mich an. Das geht mir zu langsam. Ich stürze aus der Kabine und nehme für den Rest die Treppen. Auf den alten, breiten Holzgeländern kleben Sticker der Dortmunder Ultras und der Bochumer Antifa. Oben angekommen gibt es einen Zwischenraum mit einer alten Glaswand, an der ein paar Plakate kleben. »Gestrandet – Literatur aus dem verschollenen Leben« steht auf einem, »Abgründige Geschichten mit Johannes Opfermann.« Hinter der Plakatscheibe führt eine Tür auf den Balkon. Sie ist geöffnet. Ich hatte die richtige Ahnung. Und trotzdem: Herzrasen. Kalte Hände. Zorn. Ich steige auf den Betonweg in schwindelnder Höhe. Die gelbe Farbe blättert vom Beton, und Reste von Laub, das bis hierher nach oben geweht wurde, schwimmen in Lachen niemals absickernden Regenwassers. Ganz am Ende, klein wie ein Punkt, steht Nestor. Er blickt ins Lottental. Für die Sonntagsspaziergänger, die gerade unten auf dem Campus ihre Hunde ausführen und zufällig hinaufsehen, bin ich ein winziges, rennendes Männchen an der Flanke eines Kolosses.
    »Du Wichser!«, schreie ich, überrascht von meiner Energie, »dafür habe ich jetzt echt keine Zeit!«
    Nestor dreht sich um, ganz ruhig. »Du hast mich gefunden«, sagt er. Unter uns rauschen die Bäume. Am Horizont stehen Höfe wie in die Landschaft getupft.
    »Ist das dein Spiel?«, japse ich. »Sich immer schön aufhalten lassen kurz vorm Selbstmord? Da mache ich nicht mit!«
    Nestor lässt Schultern und Arme sinken und schaut so betroffen, als sei er mit einem mobilen, herrlich duftenden Pizzawagen durch Äthiopien gefahren und hätte die Stückchen an Angelhaken immer wieder knapp vor den sich ausstreckenden Hungerhänden weggezogen.
    »Auf dem Zettel, den ich an den Computer geklebt habe, stand nur ›Bin an der Uni‹. Nicht: ›Rette mich, ich will springen!‹ Wenn man nah am Text bleibt, sagt der Zettel nichts dergleichen aus.«
    »Jetzt komm mir nicht mit Dialekt!«
    »Wieso Dialekt? Habe ich Dialekt? Mein Großonkel war Franke, aber …«
    »Ich meine das, was die Schlauen in diesem Gebäude hier tun. Dieses Hin-und-her-Diskutieren, bis alle bewusstlos sind.«
    »Ach, du redest von Dialektik!«
    »Ja. Was weiß ich.«
    Er lacht für eine halbe Sekunde laut auf und streicht mit der Hand den Beton des breiten Geländers. Die Nickhaut schießt über seine Pupillen. »Kräftig im Auftrag und selbst durch Wind und Wetter nicht entfernbar – Die

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