Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
Sorrow
16. 03. 2011
51° 09′ 31.21″ N, 14° 59′ 34.04″ E
Ich bin tatsächlich im Club untergekommen. Diese Szene loyalen Lärms nimmt einen immer wieder auf, wenn man irgendwann mal Teil von ihr war. Ich habe mir die Konzerte angesehen, die begeisterten Kids vor der Bühne und die begeisterten Kids auf der Bühne. Wirbelnd, rasend, die Gitarrenhälse knapp an der Schläfe ihres Nebenmanns vorbeisausen lassend wie Tennisschläger, die im Luftzug zischen. Die Anwesenden gingen völlig in dem Spektakel auf, nur in meinem Kopf hat den ganzen Abend der Professor aus Frankfurt gesprochen. Er lebt in meinem Schädel wie viele andere Gelehrte, deren Gesamtwerk ich gelesen habe, während die Kommilitonen aus der Philosophie auf dem Rasenplatz hinter der Mensa Fußball spielten. Sie sind heute glücklicher als ich. Sie können immer noch ihr Leben einfach so führen, ohne ständigen Audiokommentar. Beim Konzert war es gestern sogar ein Videokommentar, denn der Professor lugte mit seinem kahlen Kopf, seinem grauen Haarkranz und seiner runden Hornbrille hinter dem Boxenturm hervor, fixierte mit seinen kleinen Augen die martialischen Motive des Merchandise und sagte: »Das halbgebildete Bewusstsein beharrt auf dem ›Mir gefällt es‹, zynisch-verlegen darüber lächelnd, dass der Kulturschund eigens fabriziert wird, um den Konsumenten hinters Licht zu führen.« Die ganze Nacht über ist er bei mir geblieben, sogar im »Künstlerappartement«, einem Matratzenlager unter dem Dach, in dem ich mit den Musikern übernachten durfte. Kurz vorm Einschlafen war ich so unvorsichtig, ihnen das Ziel meiner Reise zu verraten. Ich war nüchtern, aber das Pyjamaparty-Gefühl kann die Lippen im Dunkeln genauso lockern wie Wodka oder Whiskey. Ich habe ihnen den Grund für mein Handeln verschwiegen, aber dass ich leiden will, haben sie begriffen, schließlich versuchen sie selbst, Schmerz in Töne zu gießen. »Falsch!«, sagte der Professor in meinem Kopf, als gerade eine gewisse Verbundenheit mit diesen fremdem Jungs meinen Schlafsack zu wärmen begann. »Diese Musiker leiden nicht. Sie bieten bloß eine Identitätsofferte in Warenform!« Er hört nicht auf zu sprechen, und spricht nicht er, so spricht ein anderer. So ist es bei mir seit Jahren. Aber mein Vorhaben hätte ihm gefallen. Mein radikales Verschwindenwollen.
Nun ist es Morgen, und ich steige nach nur vier Stunden Schlaf die Treppe der Dachstiege in den Club runter. Der Veranstalter und Chef des Hauses, Andy, sitzt am Sofatisch gegenüber der Küche und sortiert Quittungen. Er kennt sogar mein Buch, es liegt in dem kleinen Regal neben dem fleckigen Sofa. Hartmut Hartmann, Manifest für die Unvollkommenheit . Schön abgegriffen fläzt es sich zwischen einem Stapel alter Ausgaben des Musikmagazins Intro und Taschenbüchern von Charles Bukowski. Neben Andy sitzt der Sänger der gestrigen Hauptband mit einer Tasse Kaffee. Er heißt Malte, und sein T-Shirt ist zu schmal für den Namen seiner Formation. Sie heißt From The Ashes Of Unseen Realms We Scream The Pledge Of Alliance. Die Vorbands trugen die Namen Wolves In The Throne Room Never Look Further Than The Next Flesh und Between Dawn And Rise There Lies A Fountain Of Trust.
»Und? Bist du wieder zur Vernunft gekommen?«, fragt mich Andy und zeigt auf Malte. »Er hat mir alles erzählt von deinem Vorhaben. Die sibirische Karasee? Das meinst du nur symbolisch, oder?«
»Die Insel ruft nach mir«, sage ich. »Außerdem meine ich grundsätzlich alles wörtlich.«
»Hast du eine Ahnung, wie du dort hinkommen willst?«, fragt Andy. Malte schaltet auf seinem Smartphone das Internet ein. »Ich guck das mal nach.«
Maltes Schlagzeuger sucht in der Küche die Schränke nach Essbarem zum Frühstück ab. Er findet nichts, hebt den Deckel vom Topf mit der veganen Pampe, die gestern Abend an die Bands verfüttert wurde, und schaltet die Herdplatte ein, um sie aufzuwärmen. Ich stehe auf und nehme mir ebenfalls einen Kaffee. Er schmeckt, als hätte man geschredderte Kupferrohre aufgegossen.
»Alter sibirischer Bär!«, ruft Malte und hält sein Smartphone quer, so dass sich die Fotos drehen. Sie zeigen schmale Straßen mit Wänden aus Schnee und Holzhäuser mit Eiszapfen am Vordach. Im offenen Meer stehen Kräne und Schiffe. Die gesamte Wasserfläche ist gefroren. »Das ist Dikson«, erklärt Malte. »Der Hafen, von dem aus du zur Einsamkeit übersetzen müsstest. Da erfriere ich schon vom Gucken.«
Es ärgert mich, dass Malte
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