Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
noch lauter. Ein leises Zischen und ein kurzes Quietschen verrät mir, dass die Straßenbahn noch nicht weitergefahren ist – eine der Türen ist aufgegangen. Schritte auf den Tritten der Straßenbahntüren. Eindeutig von oben nach unten. Fest, gelassen. Ich stelle mir eine »Kante« vor. Mindestens 1,90 m, breite Schultern. Bierbauch. Buschiger Schnäuzer. Zusammengekniffene Augen. Was geht da unten vor sich? Ich muss aufstehen und nachsehen. Die Starre überwinden. Die Angstdressur austricksen.
Ich stehe auf und schaue aus dem Fenster. Die »Kante« ist eine zierliche junge Frau. Mit einem Lächeln wickelt sie die beiden türkisch-deutschen Männer um den kleinen Finger. Bahn und Auto wirken völlig unversehrt. Es gab keinen Unfall. Nur einen kurzen Schreckmoment. Ich atme auf und bin froh, dass ich nachgesehen habe. Ein kleiner Sieg über die Dressur.
Die Fahrerin spricht zu leise, um sie von hier oben zu verstehen, aber die Männer sind begeistert. Sie klimpern mit den Augen. Einer streicht seine Haare glatt und zeigt seine blitzenden Zähne. Er macht einladende Gesten. Ob er wirklich glaubt, die Frau lässt augenblicklich ihre Bahn im Stich und geht einfach mit ihm mit? Der andere wippt auf den Füßen vor und zurück und hält den Kopf ein wenig schief. Sabbert er etwa? Die Frau wiegt ihre Hüfte nach rechts und links, dreht sich einen Finger in ihre lockigen Haare und lächelt weiter. So ist das: Ich erwarte Unfallgeschrei mit aggressiven Gesten und werde stattdessen Zeugin einer putzigen Flirterei! In der Zwischenzeit haben sich die Autos hinter der Bahn bis zur Friedrich-Karl-Straße gestaut. Nun nicken alle, und große Münder lachen. Die drei steigen in ihre Gefährte und winken zum Abschied. So geht es auch. Flirten als effektive Deeskalationstaktik. In Köln leben eindeutig die engsten Verwandten der Bonobos.
So spät ist meine Mutter in den ganzen Monaten, in denen ich hier bin, noch nie aufgestanden. Ich drücke leise die Klinke runter und schaue mich im Flur um. Es ist alles ruhig. Mein Herz klopft schneller. Meine Kehle fühlt sich an, als hätte ich einen trockenen Waschlappen verschluckt, der nicht herunterrutschen will. Der Küchentisch ist so leer wie gestern Abend. Sie war wirklich noch nicht auf. Das Brummen in meinem Kopf verstärkt sich wieder. Ich gehe leise in die Küche und klopfe auf das Barometer. Das Wetter ist vollkommen normal. Es gibt keine Erklärung für mein Katergefühl.
Ich lausche in Richtung Schlafzimmer. Aus dem Fenster im Ess-Büro rauscht der Verkehr, und durch die geschlossene Balkontür der Küche höre ich Vögel im Garten zwitschern. Sonst höre ich nichts. Meine Mutter muss noch tief schlafen. Oder sie liegt tot in ihrem Bett.
Ich stehe barfuß auf den braunen Kacheln in der Mitte der Küche und traue mich nicht, das leiseste Geräusch zu machen. Ich blicke mich um und frage mich, was ich jetzt tun könnte. Mein Magen knurrt, aber Frühstück zu machen wäre zu laut. Teller klappern, Messer klirren, Wasser rauscht, die Kaffeemaschine röchelt, die Kühlschranktür schmatzt. Das geht nicht. Es würde sie wecken. Schon wieder eine Starre. Eine weitaus ältere Dressur.
Ich stelle mir ein Frühstücksgedeck mit frischen Brötchen vor und schaue dabei auf den leeren Tisch, der nicht leer ist. Ein Zettel liegt auf dem Tischtuch: Susannchen! Krone ist ab. Bin eben beim Zahnarzt. Mach Dir was zu essen! Kuss! Mama.
Meine Schultern fallen nach unten, das Brummen in meinem Kopf nimmt zu. Ich könnte jetzt laut schreien, und niemanden würde es stören. Ich nutze die Gunst der Stunde nicht.
Nach der Dusche und Irmtrauts Rücksiedlung in die Wanne ist es ganz eindeutig: Ich habe einen Kater. Und jetzt kommt noch die Sehnsucht nach Yannick dazu … und nach Rollmöpsen. Hartmut sagt, dass das Gehirn die beste Assoziationsmaschine der Welt sei. Hartmut … Ein Schritt zurück. Rollmöpse. Ich will Rollmöpse. Sonst nichts. Gut, mit einem Brötchen, aber ansonsten Rollmöpse.
Ich öffne die Kühlschranktür, sehe aber nur eine Scheibe Käse ohne Löcher, eingewickelt in Zellophanfolie, ein paar weiße Eier und einen halben Liter Eifel-Milch in der weißen Packung mit blauen Girlanden und der roten altertümlichen Schrift, die wahrscheinlich Rotunda Pommerania heißt. Zumindest meinte Caterina mal, dass das hinkommen könnte. Eine Rotunda, also eine rundgotische Schrift, sei es aber garantiert. Wieso merke ich mir so was?
»Fisch vom Land«, lese ich und sehe, dass ich
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