Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
Männern verschiebe ich erst mal.
> Caterina
< Hartmut
Die Pension
17. 03. 2011
51° 9′ 13.35″ N, 15° 18′ 51.11″ E
Ich habe die Frauen abgehängt. Wie ich gelaufen bin! Den ganzen Tag, ohne abzusetzen, vierzehn, fünfzehn Kilometer ohne Pause, ohne mich auch nur umzudrehen. Wie in einem Albtraum, wenn das Ungeheuer hinter einem her ist. Es dämmerte bereits, als ich anhielt und in einen Busch kroch, wo ich bis zum Morgen in meinen Schlafsack gewickelt gelegen und versucht habe, die Lippen von Jennifer Rush aus dem Kopf zu kriegen.
Ich schmecke sie jetzt noch, als ich im herben Wiesenduft des Morgens einen Ort erreiche, der wie die Radierungen aussieht, die meine Eltern sich an die Schlafzimmerwand hängen. Endlos weite Felder. Grobe Krume. Höfe am Horizont. Ein Bauernhaus mit Heuhaufen und raschelnden Eschen. Ein Dorf streckt seine erste Straße zwischen die Felder wie ein liegender Riese seinen Arm. Eine rotgetigerte Katze springt über einen Gartenzaun davon. Das Dorf heißt Radogosczc, zu Deutsch Wünschendorf. Hier werden also Wünsche wahr. Der Name kommt mir bekannt vor. Ich sehe die Flure der Universitätsbibliothek Bochum vor mir. Die stabilen, dunkelblauen Einbände, in die sie die Bücher binden, bevor sie in die Regale kommen. Ich rieche den Teppich. Höre das leise Surren der Neonlampen. Die Ruhr-Uni konnte auch surren, wie das Avus-Motel, und manch versteckte Ecke in ihrem Betonbauch sah ähnlich unheimlich aus. In meiner Erinnerung sitze ich in einer unwirtlichen Lesenische, die Füße unter einem weißen Tisch mit Beinen aus kaltem, schwarzem Metall. Der Schriftsteller, über den ich lese, war radikal genug, dass er mich interessierte. Sogar der Professor hätte ihn durchgehen lassen, nehme ich an. Der Schriftsteller hat hier gelebt, Lauban ist der Geburtsort seiner Mutter und Wünschendorf ein Teil davon, so wie Wiemelhausen ein Teil von Bochum ist. In Görlitz ging er zur Schule, nachdem in Hamburg der Vater gestorben und die Mutter mit den Kindern zurück nach Schlesien gezogen war. Jetzt fällt mir alles wieder ein. Ich in der Lesenische und vor mir, in alter Zehnpunktschrift, durchkreuzt von Bleistiftnotizen meiner Vorgänger: Arno Schmidt. Zettel’s Traum hat er geschrieben, mit dem Apostroph am Genitiv, Bastian Sick hätte sich aufgeregt, aber Arno Schmidt hätte dieses magere Vortragsstäbchen zum Frühstück verspeist. Ich las damals eine zeitgenössische Kritik über das Buch. Entweder sei es »das Meisterwerk des Jahrhunderts« oder »ein Eiffelturm aus Streichhölzern, von einem Hobby-Berserker um den Preis seines Lebens erstellt«. Das habe ich mir gemerkt. »Von einem Hobby-Berserker um den Preis seines Lebens erstellt.« So muss man leben, dachte ich mir, wie ein Hobby-Berserker. Ich habe es getan. Und was hat es mir gebracht? Während ich mir diese Frage stelle, suche ich einen Ortskern. Aber es gibt keinen. Immer nur Häuser und Höfe, aufgereiht entlang der Straße. Ich denke schon wieder an den Professor, Theodor W. Adorno, der auch in einer ländlichen Region aufgewachsen ist, im Dorf Amorbach im Odenwald. Als unschuldiges Kind fühlte er sich dort wohl, doch später, aller Möglichkeiten zu ungebrochener Empfindung beraubt und zurückgekehrt aus dem amerikanischen Exil, schrieb er: »Ist man wieder in Europa, so ähneln plötzlich auch hier die Ortschaften einander, deren jede in der Kindheit unvergleichlich schien.« Die »universale Verhängnisgeschichte« wirkt mit »normierendem Zwang« bis hinein »in den Grundton roten Sandsteins« der Häuserziegel. Die Sätze des Professors schwirren durch meinen Kopf. Ich kann sie auswendig, so wie andere Männer Blondinenwitze. Diese Männer sind glücklicher als ich und waren es auch schon, bevor ich selbst einen handfesten Grund hatte, nie mehr glücklich zu sein.
Ein Moped knöttert an mir vorbei. Die Freundin des Fahrers schlingt ihre zierlichen Hände um seine Taille und sieht ihn bewundernd an, als sausten die beiden mit der Harley durch Amerika. Er schaut glücklich nach vorn über Straße und Felder. Noch kann er ihr nur ein Moped bieten, aber er spürt bereits, dass es der Anfang einer längeren Reise ist. Einer Reise mit diesem Mädchen und keinem anderen. Man bemerkt so etwas, wenn man eine Antenne dafür hat. Es ist, als strahle jeder Mensch ein Feld von Zukunft aus. Bei manchen ist das Feld klein. Es schimmert rot und hitzig, aber es reicht gerade mal für eine Nacht. Dann gibt es blaue Felder, ein
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