Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
Ladenschilder, rot-weiß gestreifte Markisen und gestikulierende Menschen. Auf den breiten Straßen öffnet sich der Blick dann bis zum Horizont. Du hast den Eindruck, du schaust grundsätzlich auf die grünen Hollywood Hills, und die Palmen am linken und rechten Straßenrand scheinen so weit auseinanderzustehen, als hätte die Straße zehn Spuren.
»Trinken Schmidt Kaffee«, sagt die Pensionswirtin und stellt mir eine dampfende Tasse neben meine linke Hand. Ich nicke dankend, ohne sie anzusehen, und klebe mit den Augen im Text.
Du hast geschrieben, du wärst nicht in Frankreich, um Urlaub zu machen. So geht es mir auch in L. A. Ich gebe zu, dass es mich fasziniert, hier zu sein, aber hey, ich fuhrwerke mich mit einem UPS-Transporter durch den flächengrößten Moloch der Welt, von Mexiko City mal abgesehen. Die meisten Straßen haben einfach nur Zahlen, die Stadt ist ein Gitternetz aus Quadraten, in dem du dich vollständig verlieren kannst. Vor ein paar Tagen hatte ich eine letzte Tour nach Inglewood, bevor ich in die Zentrale zurückmusste, damit die Jungs, die hier das machen, was ich früher in Herne tat, die Wagen ausladen können. Ich hatte noch zwanzig Minuten, verfranste mich und brauchte siebzig. Ich schwitzte, mir wurde kotzübel, ich dachte, ich komme nie mehr da raus. Einmal falsch auf den Freeway, und alles ist vorbei. Du willst die Worte nicht hören, die mein Vorgesetzter benutzt hat, als mein Wagen erst eine Stunde später ausgeladen werden konnte als geplant. Der schlimmste Wutanfall von Stolle war ein Schlaflied für Babys dagegen. Mein Nachbar über mir hat jeden Tag zehn, zwanzig Gäste. Tätowierte Hispanos, die laut lachen, trinken und Knobelbecher auf den Tisch schlagen. Sonntag lag ein toter Hund auf dem Parkplatz hinter dem Haus. Der Parkplatz wird nie genutzt, es wächst Gras durch den aufgebrochenen Beton, ab und zu treffen sich auch dort junge Männer und tauschen etwas aus. In Hollywood selbst bin ich noch nie gewesen. Durchgefahren, ja, sogar ein Paket habe ich schon zu einem Fotoladen direkt am Walk Of Fame beim Chinese Theatre gebracht. Aber als Privatmensch war ich noch nie dort. Auch nicht am Strand in Santa Monica oder Venice. Ich bleibe in Koreatown, im graugrüngelben Smog. Vorerst.
»Essen Schmidt Brot«, sagt die Pensionswirtin und stellt mir einen Teller mit belegten Scheiben neben meine linke Hand. Jetzt sehe ich sie an und lächele. Sie strahlt. Ich nehme ein Käsebrot und beiße hinein, den Blick wieder auf den Buchstaben. Ein paar Sätze in der Mail kommen mir seltsam bekannt vor, es sind die, in denen er von den Sekten und der Scientologyzentrale schreibt. Irgendwie wirken sie, als hätten sie einen anderen Tonfall als der Rest, aber das ist wahrscheinlich meine alte Germanistenkrankheit. Er ist in Los Angeles. Es ist folgerichtig. Ich flüchte ins eiskalte Sibirien, weil ich die Einsamkeit dort suche, wo keine Menschen mehr sind. Er flüchtet ins smogwarme L. A., weil er die Einsamkeit dort sucht, wo unfassbar viele Menschen sind. Das geht genauso gut. Ich bin ein bisschen lebensmüde, weil Sibirien einen ungeübten Mann umbringen kann. Er ist ein bisschen lebensmüde, weil Los Angeles einen ungeübten Mann umbringen kann.
Ich schreibe ihm, dass er auf sich aufpassen soll, so wie ich es tue, in Frankreich. Ich habe ein schlechtes Gewissen, ihn darüber anzulügen, dass ich nicht wie er an einen Ort gegangen bin, an den es mich schon immer zog und an dem man sich trotzdem bestrafen kann. Weil Sibirien doch einen Schritt härter ist als Koreatown. Zwei Schritte. Zehn. Ich kratze meine Phantomkotelette, als ich tippe. Die Pensionswirtin bringt neuen Kaffee.
Gegen 9 Uhr verlasse ich das Haus. Ich umarme meine Gastgeberin. Die Gänse schnattern im Hof. Das weiße Rollo reflektiert die Morgensonne gleißend wie Schnee. Es war kein anderer Gast zugegen während meines Aufenthalts. Vielleicht verwandelt sich die Pension jetzt, wo ich die Schwelle überschritten habe, wieder in ein Privathaus zurück. Vögel zwitschern. Niemand ist zu sehen. Ich gehe zur Hauptstraße. Das junge Pärchen mit dem ewigen Zukunftsfeld schlendert Hand in Hand auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie turteln so offen, wie es kaum ein Paar in Deutschland tut, auch nicht auf dem Land. Er stübert ihre Nase und macht dabei glucksende Geräusche. Erst als er mich bemerkt, räuspert er sich, geht wieder aufrecht und zeigt ihr als Übersprungshandlung einen hässlichen Schornstein. Seine
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