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Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)

Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)

Titel: Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Uschmann , Sylvia Witt
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Schultern, steckt die Tüte zurück und fragt mich noch einmal: »Freund, sag mir: Wohin?«
    Was soll ich jetzt äußern? Ich kann nicht »Einsamkeit« sagen. Dann geht das ganze Theater wieder los, wie im Berliner Taxi. Die Augen im Rückspiegel warten auf Antwort. Ah, ich weiß! Ich sage einfach nur den echten Ortsnamen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Keine Lebensbeichte. Keine große Offenbarung. Nur den Namen in der norwegischen Fassung, die kein Schwein kennt. Ich sage: »Ensomheden.«
    Khaleds Augen fixieren mich ein paar Sekunden im Rückspiegel. Er hebt den Kopf, die Unterlider schieben sich ein Stück über das Weiß zurück, und er sieht nach vorn auf die Straße. Er nickt und sagt: »Sibirische Insel?«
    Ich glaube, ich höre nicht richtig. Khaled, der immer noch mit den Knien lenkt, erinnert sich daran, dass er Hände hat, und legt sie wieder ans Lenkrad. »Hafen von Dikson«, sagt er. »Gefriertes Meer. Richtig? Gefriert? Gefroren? Eisschollen auf Wasser. Sehr kalt, mein Freund. Sehr, sehr kalt. Ich war dort …« – er überlegt – »einmal.«
    »Ach, nur einmal«, sage ich, aber er überhört den Sarkasmus.
    »Wegen Polarlichter. Musst du sehen im Leben.« Er gestikuliert mit der rechten Hand am Horizont in der Frontscheibe: »Wie sagt man? Ein schöner Moment leuchtet das Leben hindurch.« Er lächelt. Der Satz klang wie auswendig gelernt. Als ob ein Rockstar für sein Konzert in Deutschland ein paar akzentfreie Sätze vorbereitet und lautmalerisch in sein Gedächtnis brennt. Aber was noch viel schlimmer ist: Khaled kennt die Hafenstadt, von der aus man zur Einsamkeitsinsel übersetzt. Dieses kleine Loch aus Holzhäusern, Schleppkähnen und uralten Lastkränen zum Beladen von Frachtschiffen, die eingefroren in der Karasee stehen. Er kennt es … und fragt mich nicht, was ich da will.
    »Ich will auf die Insel«, sage ich. »Ich will nicht in Dikson bleiben und Polarlichter gucken. Ich will auf die Insel.«
    »Bae.« Khaled nickt. »Habe ich verstanden, mein Freund. Du willst auf die Insel.«
    Ich nicke: »Ja, genau. Auf die verlassene Insel.«
    »Bae.«
    »Auf die Insel, die seit 1996 niemand mehr betreten hat.«
    »Bae.« Khaled lenkt und wirft einen Blick auf sein Handy, das aufleuchtet, ohne zu klingeln.
    »Das ist ganz schön wahnsinnig, oder?«, sage ich. »Ich meine, so ganz alleine auf einer verlassenen Insel in der Karasee?«
    Khaled schweigt.
    »Es gibt da nicht einmal Gebäude. Nur die alte Wetterstation. Sieht bestimmt aus wie die zugewucherte Zentrale der Isla Sorna in Vergessene Welt . Obwohl, in Sibirien wuchern keine Pflanzen. Da wuchert nur Eis.«
    Khaled entfernt einen Nusssplitter aus den Zähnen.
    »Wer weiß«, sage ich, »vielleicht ist der Fisch im Wasser tiefgefroren.« Khaled lacht nicht. Er nimmt sich neue Nüsse.
    »Kein Mensch weiß, wie ich dort überleben soll. Wahrscheinlich bin ich nach einer Woche fast verhungert und versuche, unter einem Meter Eis das alte Funkgerät freizuhacken. Mit meinen Fingernägeln.«
    Khaled kratzt sich am Knie.
    »Und nach zehn Jahren finden sie mich dann, konserviert durch die Kälte, auf Knien vor dem Pult, die Finger verkrallt im Eis über den alten Knöpfen. Wie eine Skulptur.«
    Khaled schmunzelt. Aber er sagt nichts.
    Ich schnaufe und schlage, die Füße weiter unter meinen Hintern geklemmt, mit den flachen Händen auf meine Oberschenkel: »Verdammt nochmal, willst du micht nicht davon abhalten???«
    Khaled schaut in den Rückspiegel, legt die flache Hand auf seine Brust und zieht die Brauen hoch: »Ich?«
    »Ja, sicher du! Ist hier sonst noch jemand?« Ich rege mich auf. Wären meine Koteletten noch dran, würden sie jetzt vorwurfsvoll mit ihren haardünnen Ärmchen auf den provozierend gelassenen Fahrer zeigen. Ich klopfe auf meinen Rucksack. »Ich wollte sogar dahin laufen ! Nach Sibirien. Verstehst du? Zu Fuß!«
    »Du läufst nicht. Du sitzt im Landrover.«
    »Ja, aber … das ewige Eis! Ensomheden! Du kennst das, du warst schon mal da … und dann hörst dir einfach nur an, was ich vorhabe?«
    »Klar. Ich nehme Mann ernst.«
    Spinnt der denn? Der soll mich doch mal ansehen hier auf seinem Rücksitz, die Unterschenkel eingeklappt wie ein Kind, das mit seinen Quartettkarten spielt. Sieht so etwa ein Mann aus? Ich fasse es nicht.
    »Erst mal Warschau«, sagt Khaled. »Gut?«
    Er fragt nicht, warum ich auf die Insel will. Er sagt nur an, wo es langgeht. Ich winke ab und drücke meine Füße unter meinem Hintern hervor.

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