Erdwind
er kannte. Hochinteressant. „Wer hat diesen Erdhügel errichtet?“ fragte er.
„Es gibt mehrere. Sie liegen verstreut um den crog, in kleinen Waldlichtungen. Unsere Ahnen haben sie als rituelle Ein- und Ausgänge zur Feuer-Halle gebaut. Unter dem Wald sind viele, viele Höhlen und Gänge; unsere alten Leute begeben sich oft unter die Erde, um dort zu sterben. Diese Kammer ist die größte von allen, und hier haben schon vor meinem Vater und Großvater die Seher gewohnt. Viele Generationen.“
„Haben sie alle das Lied der Erde befragt? Das Orakel?“
„Mein Vater war Seher, doch er gewann das Recht dazu in einem Wettbewerb. Ich habe es von ihm geerbt; aber ich habe keine Kinder, und wenn ich sterbe, wird es einen harten Wettkampf um die Ehre geben.“
„Ich bin sehr gespannt auf dein Orakel mit dem seltsamen Namen.“
„Es hat bereits Feindseligkeiten vorausgesagt.“
Ashka verstand nicht gleich, was er meinte. „Feindseligkeiten? Das heißt … was? Zwischen unseren beiden Völkern?“
„Feindseligkeiten innerhalb meines eigenen Volkes, wegen der Mission von euch Jenseitlern.“
Nachdenklich schwieg Ashka. Er dachte an seine ching- Lesung für Gorstein und die dunkle Andeutung von Feindseligkeit; er dachte daran, wie schwierig die ersten Verhandlungen zwischen den beiden Völkern gewesen waren. Ein Kampf schien fast unvermeidbar. „Wir müssen versuchen, das zu verhindern“, sagte er.
„Das ist nicht möglich“, erwiderte Iondai traurig.
„Nichts ist unvermeidbar“, beharrte Ashka, „wenn man weiß, wo man hineinrennt.“
Iondai verstand das anscheinend nicht. „Die Voraussage ist unabänderlich“, entgegnete er, „wir können nichts tun.“
Ashka konnte seine Überraschung nicht verbergen. Wenn Iondais Orakel tatsächlich funktionierte (und Ashka war nicht gesonnen, das unbesehen, nur auf Elspeths Behauptung hin zu glauben), dann war schwer zu begreifen, daß diese Menschen noch nicht erkannt hatten, daß Prophezeiungen abwandelbar waren. Wenn sie sich aus Tradition an den Wortlaut jeder Prophezeiung klammerten, so würde das natürlich Iondais Haltung erklären. Doch Ashka spürte, daß sein Kollege und Gegenspieler ein Mann von tiefen Gedanken war (so recht ein Mann mit dem Temperament eines Rationalisten); und es brauchte nur eine kleine Meinungsverschiedenheit oder Mißhelligkeiten als Folge einer Prophezeiung zu geben, dann nahm der Strom der Zeit einen anderen Verlauf – das war gar nicht so selten. Aber schließlich hatten so viele menschliche Kulturen, die prophetische Systeme entwickelt hatten, nicht erkannt, was die alten Asiaten erkannt hatten: nämlich, daß Zeit und Leben nicht prädestiniert waren, selbst dann nicht, wenn sie (vorausgesetzt, man überließ sie sich selbst) in eine ganz bestimmte Richtung gingen: in die Richtung des geringsten Widerstandes.
Ashka fragte sich immer noch, ob er das Recht hatte, den Seher auf subtile Art über den Weltenlauf zu belehren, diskret so viel Samen zu säen, daß rechtes Verstehen schnell aufblühen würde; doch da brach Iondai das sich in die Länge ziehende Schweigen: „Was für ein Orakel benutzt du?“
Ashka fuhr aus seinem Sinnen hoch. Erst dachte er, Iondai mache einen Scherz – was für ein Orakel? Hatte der Mann denn überhaupt keine Ahnung …? Und dann fiel ihm wieder ein, wo er war.
Es war, als ob er, Ashka, der Realität für einen Augenblick entschlüpft sei – wie stark war dieses Gefühl! –, ein lebendiger Traum, ein Moment der Entrückung, der Stunden zu dauern schien. Die reale Welt flutete zurück (welch passende Metapher!). In der fackelerleuchteten Höhle, wo die Symbole und die zerklüfteten Felsvorsprünge sich in dieser bizarren Lebensähnlichkeit bewegten, die flackerndes Licht hervorbringen kann, zog Ashka seine Leinentasche zu sich heran und auf seinen Schoß. „Wir nennen es das Buch der Wandlungen“, sagte er und holte das in Seide gewickelte ching unter den zahlreichen Dingen in seiner Tasche hervor. „Ein sehr altes Orakel, das aus mehreren philosophischen Werken entstanden ist, deren jedes im Laufe der Zeit noch erweitert wurde. Ideen, verstehst du – die Ideen vieler Menschen, die sich unversehens, vor Hunderten von Generationen zum Schlüssel des lebendigen Orakels kristallisierten, das dieses Buch darstellt.“
„Dieses Ding da?“ fragte Iondai, streckte die Hand aus und berührte die Seide. Ashka wickelte das ching aus, so daß Iondai sehen konnte, was es war. „Wir nennen das
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