Erdwind
Beziehung zum tao zu ändern, um Katastrophen oder Schwierigkeiten zu vermeiden. Da wir eine Ahnung vom Trend der Zukunft haben, können wir natürlich gegebenenfalls eine produktivere Beziehung zum tao suchen.“
„So ist also dieses Buch – mit seinen Symbolen – eine Brücke zwischen euch und diesem tao. “
Ashka lächelte und streichelte das Buch liebevoll. „Ohne dieses Buch wären wir alle nur Treibgut (sein Lieblingsausdruck) … Das ching, das Buch, ist nur ein Gegenstand, doch wenn es gebraucht wird, ist es voller Leben. Ich glaube – oder es wird allgemein geglaubt –, daß das Buch während des Gebrauches zu etwas Lebendigem wird – zu etwas Fühlendem irgendwo zwischen Leben und kaltem Tod.“
Nachdenklich blickte er auf das Buch und erinnerte sich der Jahre, die er mit ihm verbracht hatte, an die Tragödien und die Freuden, die sie miteinander geteilt hatten, sein Buch und er, das Halblebewesen und der engumgrenzte Mensch. Konnte es Zweifel darüber geben, daß das Orakel lebendig war – einerseits die Ausweitung der Bewußtheit des Fragenden, und andererseits die Ausweitung der Bewußtheit jenes großen Universellen –, das ching in zeitlich begrenzter Mittlerfunktion zwischen stofflichem und nichtstofflichem Leben?
„Unser Geist“, sagte er zu dem still kontemplierenden Iondai, „verbirgt vieles vor unserer Bewußtheit. Wir merken nichts von unserer Intimität mit dem Kosmos – dem tao – , wir können es nicht fühlen, nicht riechen. Tausende von Jahren hat der zivilisierte Mensch geglaubt, er bestehe aus Fleisch und Geist (und der Geist sei tot, wenn der Körper tot ist), und er sei ein Behälter von Reaktionen, ein undurchdringlicher Sack, der keine Verbindung zu irgend etwas anderem gestattet als durch physischen Kontakt. Es ist immer noch verzweifelt schwer zu begreifen, daß wir alle nur Staubteilchen auf den rollenden Wogen eines riesigen Ozeans sind. Ohne daß wir es wissen, reicht unser Geist in diesen Ozean hinein und artikuliert sich so, daß es die meisten Menschen gar nicht gewahr werden. Im Traum fassen wir manchmal ein Stückchen in diese wilde Leere hinein; in der Sprache erleben wir, daß Bewußtwerden an die Oberfläche kommt und sich einschleicht in die Art und Weise, wie wir ‚Wörter’ bilden … in die Symbole, durch die wir Gedanken ausdrücken …“
Iondai lächelte, als Ashka seinen abwesenden Blick auf des Sehers tiefverschattetes Gesicht lenkte. „Mein Freund“, sagte er mit sanfter Stimme, „es tut mir leid – aber jetzt verstehe ich nichts mehr.“
Ashka mußte lachen, als Iondai so um Verzeihung bittend lächelte. „Es ging mit mir durch. Entschuldige.“
„Schon gut. Mein Orakel, das Lied der Erde, ist viel einfacher.“
„Ich würde es gern sehen.“
„Bald. Dein Interesse an meinem Lied der Erde kann nicht größer sein als mein Interesse an deinem ching.“
„Gewiß. Möchtest du das ching befragen? Dir würde es bestimmt antworten.“
„Ich glaube, wir sollten es nachher beide zu Rate ziehen. Es gibt da eine Frage, auf die wir Antwort haben müssen. Du mußt dann diese Antwort deinen Leuten bringen; ich bringe sie meinen. Wir müssen also beide Orakel befragen.“
Sollte die Mission doch weitergehen? dachte Ashka. Angesichts der Situation und der unerwarteten Ereignisse auf dem Aeran war das die nächstliegende Frage. Er lächelte verständnisvoll.
„Aber wenn ich dich richtig verstehe“, fuhr Iondai fort, „wird uns dein ching nur sagen, was in der Zukunft geschehen könnte. Es sagt uns nicht, was geschehen wird.“
„Diese Macht hat kein Orakel“, erklärte Ashka. Er suchte in Iondais Gesicht nach einem Zeichen – irgendeinem Zeichen – der Verwunderung, doch sah er keins. „So wie das Universum, das uns umgibt, konstruiert ist, gibt es keine Möglichkeit, die Zukunft zu ‚sehen’. Das Leben ist nicht vorprogrammiert.“
„Dann könnte dir also dein Orakel nichts von Tod, Feuer, Überschwemmung oder Geburt sagen … es befaßt sich nicht mit Dingen, die geschehen werden, sondern nur mit den Beziehungen eines einzelnen Menschen zu seiner Umwelt.“
Das konnte Ashka nicht abstreiten. „Insofern als die Menschen gewöhnlich an Geschehnissen beteiligt sind, kann das ching auch benutzt werden, um die Möglichkeit eines Unheils vorauszusagen. Was den Tod betrifft …“ Er schwieg und ließ seinen Blick zu dem dunklen Gang wandern, der zum Lied der Erde führte. „Den Tod …“, wiederholte er. Wie seltsam, daß er
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