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Erdwind

Erdwind

Titel: Erdwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Holdstock
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ein Buch“, erläuterte er; „Ideen, Rat, Weisheit – alles das ist auf seinen Seiten aufgeschrieben.“
    Iondai war geradezu entzückt. Er sah zu, wie Ashka die drei Münzen herausnahm, Seite auf Seite umschlug, auf Wörter und Symbole deutete. Er war aufgeregt wie ein Kind.
    „Und das ist das Orakel – du trägst es mit dir herum! Du mußt – entschuldige, wenn ich von Ehrfurcht ergriffen bin –, aber du mußt ein sehr großer Seher sein! Ein Seher, der ein Orakel mit sich herumträgt!“
    Ashka lächelte. „Niemand ist groß, und niemand ist geringer als groß.“
    „Aber das Orakel mit sich herumzutragen!“
    „Das hier ist nicht das eigentliche Orakel“, erläuterte Ashka. Hoffentlich war es nicht zu verwirrend für diesen Frühmenschen. „Das ist nur meine Verbindung zum Orakel – mein Zugang zu ihm. Mittels dieses Buches befrage ich das Orakel selbst.“
    „Und wo ist das Orakel selbst?“
    „Überall. Das ganze Universum ist das Orakel, der Fluß der Zeit, die Kondensierung der Materie, die geheimen Orte, wo das Leben entsteht, das Ziehen der Schwerkraft.“
    „Ich verstehe nicht.“
    „Keiner versteht das, Iondai. Das ching – so nennen wir das Orakel gewöhnlich – verbirgt seine wahre Natur vor uns, doch es erlaubt, daß wir so nahe an ein Verstehen herankommen, daß wir Angst kriegen – Angst vor der Macht des Orakels bedeutet Glauben – und Glauben ist alles, was es braucht, um zu wirken.“
    „Dann kommt also die Voraussage aus deinem Innern – geht das so vor sich?“
    „In einem gewissen Sinne – ja.“ Für Ashka lag es natürlich auf der Hand, und auch insofern für jedes Kind in Ashkas Welt. Aber bei einem Steinzeit-Schamanen bedeutete diese einfache Feststellung eine großartige Leistung intuitiven Verstehens. Großartig. „Weit ist das tao“, zitierte Ashka, „das Erste und das Letzte, universal, immer vorhanden, immer seiend, Zeit und Raum umfassend, Anfang und Ende, den Menschen und alles Leben, das geringer ist als der Mensch.“ Er brach ab und sah Iondai an „Tao ist ein altertümliches Wort für Energie und Materie, die um uns und durch uns fließen, um und durch jeden von uns.“
    „Winde“, sagte Iondai, „Hitze und Kälte; die Kräfte, die in Steinen und Felsen erscheinen, in der Erde; der eingefangene Atem der Zeit … ja, ich verstehe, glaube ich.“
    Erdstrom im Felsen …
    „Kannst du das wirklich sehen …“ – Ashka war jetzt plötzlich sehr angetan von des Sehers Worten – „… den Fels, das Leben …“ – Er brach ab. Irgendwie kam ihm das irrelevant vor; er würde Iondai später danach fragen. Iondai verstand offenbar die Konzeption des tao, wenn auch in primitiver Form.
    Warum diese Angst auf der dritten Ebene seines Geistes? überlegte Ashka. Sie stand da, eine quälende Ungewißheit, ein Spottgelächter – worauf deutete es hin? Müßte nicht eigentlich Iondai ihm die Natur der Kräfte und Wandlungen erklären? Leben im Fels, der Fluß der Erdenergie – das sah nur der primitive Geist, oder man sah es nur mit Hilfsmitteln, die selbst so verfeinert waren, daß sie in eine Dimension jenseits des Zugriffs der normalen menschlichen Psyche hinabreichten. Welche Geheimnise barg Iondai hinter seinen Augen, hinter den Knochen und dem Blute seines Schädels? Er und sein ganzes Volk?
    „Ja“, sagte Ashka laut, „diese Kräfte gehören dazu. Die nächtlichen Sterne – auch sie wirken mit ihren eigenen Kräften auf ihren Umkreis ein; und zwischen uns und den Sternen ist eine Leere, die erfüllt ist vom Echo … anderer Leeren, von kleinsten Partikeln von Materie, die auch zu anderen Universen gehören, nicht nur zu unserem – alles dieses bildet eine immense Struktur, die unseren Geist, unser Sein erfüllt und ständig ein- und ausfließt. Wir, die wir bewußt leben, sind auf sehr verzwickte Weise durch unser Leben mit dieser Struktur verbunden, und wir können auf den wechselnden Strömungen dieses mächtigen Flusses schwimmen. Zu bestimmten Zeiten sind wir sehr im Gleichklang mit der Energie um uns, zu anderen Zeiten sind wir es nicht. Wir können das physische Gleichgewicht ziemlich leicht regulieren, indem wir den Strom im Körper umleiten; doch beim Geist ist es schwieriger, und gerade der Geist trägt uns durch den langsamen Prozeß der Wandlung. Dieses Buch, das Buch der Wandlungen, sagtuns, wohin wir gehen, und so können wir uns überlegen, welchen Pfad wir einschlagen wollen. Es kann vorkommen, daß wir uns genötigt sehen, unsere

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