Erdwind
bestimmte sein Leben; das ching war sein bester Freund und leitete sein Schicksal. Leben und Schicksal – was gab es sonst noch? Nur die Vergangenheit. Hier und nur hier tat ihm manches von Herzen leid. Doch das war unwichtig.
Das Leben, das hinter ihm lag, war voller Erinnerungen an alle Freuden, nach denen er sich immer gesehnt hatte: neues Wissen, neue Orte, neue Fragen. Er hatte nie geheiratet, denn das gehörte zu den Freuden, nach denen er sich nicht sehnte. In mancher Hinsicht war er anomal, doch wenn seine Exzentrizität, seine Hingabe an das ching ihn ein wenig von den anderen Menschen entfernten, so war er nichtsdestoweniger ein Mensch wie andere auch, ohne große Kreativität und ohne den starken, reformatorischen Funken. Er beherrschte sein Handwerk, wie so viele in seiner Umgebung, aber er war nicht überragend.
Er maß seinen Erfolg nicht an dem angehäuften Wissen (das war sein privater Stolz), sondern an den Erfolgen Karl Gorsteins. Gorstein war sein Herr und doch in gewissem Sinne sein Untergebener, denn in den letzten Jahren hatte Ashka ihn geführt, hatte ihm geholfen, oben zu bleiben, hatte ihn mit Rat und Hilfe versehen, hatte den Mann zur Macht aufsteigen, ihn Schiffs-Meister werden sehen, hatte beobachtet, wie seine Kraft aufblühte und sich festigte. Gorsteins Erfolg war Ashkas Erfolg; er und Gorstein standen sich näher als Freunde – sie waren fast eins.
Deswegen hatte Ashka die Prophezeiung, daß die Oberen zwischen ihm und dem Erfolg der Aeran-Mission stünden, mit so tiefer Angst erfüllt. Zweifelte er – so hatte er sich gefragt – im Innersten an Gorstein? An seiner Kraft, an seiner Entschlossenheit? Spürte er in einer ruhigeren Ecke seines Geistes, daß Gorstein versagt hatte – versagt, weil er Ashka brauchte und daher kein ganzer Mann war?
Zweifel an Gorstein war Zweifel an sich selbst – ein ganz und gar unerträglicher Gedanke. Ashka und Gorstein gehörten zusammen. So war es immer gewesen. Der Rationalist und der Schiffs-Meister; der Asiat und der ‚Westler’, der Kleine und der Hochgewachsene; der körperlich Schwache und der Starke; der im Schicksal Starke und der Schicksalsschwache – komplementäre Hälften eines einzigen Wesens, yin und yang; der, der in die Zeit hineingriff, und der, der sich an die Gegenwart klammerte. Lauter Seiten eines Ganzen, und das war Vorwärtsdrängen, Fortschritt, Erfolg …
Zweifel an Gorstein war Zweifel an sich selbst. An Gorstein zweifeln hieß, seine Schwäche, Ashkas eigene Schwäche einzugestehen. Hatte er alle diese Jahre lang ein friedliches Leben geführt, um jetzt, weniger als sieben Monate vor seinem Tode, seine ganze Existenz in Frage zu stellen? Nein. Das ging nicht. Gorstein hatte – Gorstein hatte …
Könnte er doch sagen: recht.
Wild, bitter, verzweifelt sehnte er sich danach, zu sagen, daß Gorstein recht hatte, zu wissen, daß Gorstein wirklich recht hatte. Doch wenn das so war … dann hatte sich das ching geirrt. Wenn Gorstein recht hatte, über alle Zweifel erhaben recht hatte, dann hatte das ching unrecht, und das war unmöglich. Das ching konnte sich nicht irren. Es konnte nicht angezweifelt werden. Also mußte Gorstein sich irren, mußte es falsch sein, daß er, wie er es jetzt tat, das Orakel ignorierte, daß er es ablehnte, daß er Ashka ablehnte, wie er es jetzt offensichtlich tat … Gorstein irrte sich, und Ashkas Leben war eine Lüge, eine bittere Lüge, eine leere Hülle, ein Echo nur der Größe, der Ganzheit, eine nur flüchtig als Ganzheit verkleidete Hülse. Entscheidung macht Vertrauen zu Spott; Entschluß macht Tränen zur Lüge.
Gorstein oder das ching, Schwäche oder Stärke, Wahrheit oder Lüge. Ich oder ich!
Und sekundenlang trieb Ashka auf dem Wege der Verwirrung, der Unsicherheit, des echten Zweifels an den beiden Werten, die ihm am höchsten standen.
Einen Augenblick, eine Sekunde nur schwieg die geistige Auseinandersetzung um die beiden Seiten des Problems, ließ er sich statt dessen treiben, schwamm er auf den Wogen des tao, ungeführt, ohne zu wissen, wohin … Verrat, einen Herzschlag lang.
Nur noch Minuten.
Ein Augenblick des Zweifelns.
Finsternis vor ihm.
Und dann die Lösung: Gorstein irrte. Er irrte, und er mußte gestoppt werden. Es gab keinen Zweifel am ching – es wegzustoßen war dumm, und Dummheit ist das Privileg der Unwissenden. Gorstein war selbstverständlich ein Unwissender. So unwissend, daß er die Natur von Zeit und Wandlung nie begriffen hatte, niemals
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