Erdwind
Lieder, die sich in ihrem Kopf mit Fluß, Baum, Wind und Schwarzflüglern vermischten … begann sie zu verstehen – sie erinnerte sich an etwas, das Ashka heute nachmittag gesagt hatte: Der Mensch sei entstanden aus Struktur und Wesen. Und zum erstenmal begann sie zu begreifen, was ihr – wie ihr vorkam, ihr ganzes Leben lang – entgangen war … es fing an, einen Sinn zu bekommen …
Ein gräßlicher Schrei riß sie aus ihrer Meditation. Sekundenlang starrte sie verwirrt auf das Bild vor ihr und konnte kaum ausmachen, was da nicht stimmte. Doch langsam erkannte sie die Veränderung. Alle Aerani waren aufgestanden, Darrens Vater war in die Knie gesunken und starrte über das Feuer hinweg direkt auf Elspeth, streckte die Arme nach ihr aus, wie um Hilfe bittend …
Brust und Leib waren dunkel befleckt mit einem Doppelkreuz aus schwarzen Strichen, die, während er langsam zu Boden sank, als vier tiefe Wunden auseinanderklafften. Elspeth empfand Brechreiz und verschluckte den Schrei, den sie lieber ausgestoßen hätte.
Gestank erhob sich, ein säuerlicher, vertrauter und doch fremdartiger Geruch, wie er ihr noch gestern Übelkeit verursacht hatte. Es roch nach Blut und Tod.
Darren kam auf sie zugerannt; sie wollte sich hocharbeiten, doch ein steinernes Wurfmesser flog so dicht an ihrem Kopf vorbei, daß sie erstarrte. Darren blickte zurück, dann wieder auf sie (Entscheidung im Bruchteil einer Sekunde!) und stürzte dann in rasendem Lauf zum Ausgang in der inneren Düne – Elspeth sah noch, daß ein älterer Mann einen schwerbewaffneten Krieger daran hinderte, ihm zu folgen. Sie starrte auf den zuckenden Körper von Darrens Vater und hatte dabei das Gefühl völliger Taubheit am ganzen Leibe. Unter ihren Augen wurde dem noch Lebenden der Kopf abgehackt und ohne Umstände ins Feuer geworfen. Der Henker kam drohend mit erhobenem blutigem Beinmesser auf sie zu. Sie blieb regungslos sitzen und sah glasklar, daß sie nicht die geringste Fluchtmöglichkeit hatte.
Im nächsten Moment aber war der Mann weg und ging mit raschen Schritten auf die Feuergrube zu. Einige der älteren Aerani beobachteten sie aus der Entfernung, und dann lächelte ihr der Ungenn aus Darrens Familie zu. Ein wunderbar ruhiges Lächeln, dachte sie. Sein Sohn eines plötzlichen Todes gestorben, sein Enkel aus dem crog vertrieben – und da sitzt er, als sei nichts geschehen. Können familiäre Bindungen, kann Familienliebe so wenig Bedeutung haben, wenn es um ideologische Abweichungen geht?
Man kümmerte sich jetzt nicht weiter um sie und ließ sie ruhig im Schatten sitzen – eine kleine geduckte Gestalt, die zum Feuer hinunterspähte.
Die Entscheidung mußte gefallen sein, und das mußte der Grund sein für die Aktion gegen Darren und seinen Vater. Das war ihr völlig klar. Diejenigen, die gegen den Spruch des Orakels gestimmt hatten, waren auf unterschiedliche Art eliminiert worden – diejenigen, die laut gegen die ‚Knochen-Geister’ opponiert hatten, waren mit der geschlossenen Mehrheit der Aerani konfrontiert worden, die sich eindeutig zugunsten der Stimme der Zeit, wie sie durch Iondais Mund erklang, ausgesprochen hatten.
Und da saß Iondai selbst; gelassen und befriedigt hockte er dicht beim Feuer, im inneren Kreis, wo es am wärmsten war, starrte hinauf zum Wind-Sänger, der jetzt ein melancholisches Lied voller Kälte und Verzweiflung ertönen ließ. Niemand protestierte. Vielleicht prasselte das grüne Holz auch so laut, daß die traurige Stimme oben auf der Brustwehr nicht zu hören war.
Wie richtig es gewesen war, daß die kurze Erleichterung, die sie nach der Unterredung mit Gorstein empfand, nicht vorgehalten hatte! Sie hätte so dumm sein können, sich für ein paar Tage heimlich aus dem crog zu entfernen, damit die Aerani zu ihrem normalen Leben zurückfänden – dann wäre sie zurückgekommen und hätte feststellen müssen, daß das Schlimmste geschehen war. Und jetzt wußte sie ganz genau: Sollte das Schlimmste vermieden werden, so mußte sofort, radikal und drastisch gehandelt werden. Denn da die Aerani bereit und gewillt waren, sich die Monitoren implantieren zu lassen, blieb nur noch Gorsteins Unsicherheit, um sie vor den Folgen ihrer Ignoranz zu schützen. Und wie lange würde sich Gorsteins Unsicherheit gegen Ashkas Forderung nach unverzüglicher Erfüllung der Mission halten? Diese Geschichte mit dem Fluß der Zeit mochte unreal klingen, doch der Schiffscomputer wußte Bescheid und würde Gorstein überzeugen,
Weitere Kostenlose Bücher