Erdwind
Ashka set z te seine Leinentasche in das Zentrum des Ringes der ching- Hexagramme, die in den Stoff eingewebt waren. Re i ne Dekorat i on, doch unmöglich konnte man die Ruhe, die Ausgeglichenheit leugnen, die sie ausstrahlten. Nur eine A n sammlung von Fäden, rief sie gleichwohl etwas im Betrac h ter wach, es war, als ob e t was Greifbares von der Matte zum Hirn fließen würde, eine Dr o ge, deren Zauber durch den bloßen Anblick wirkte.
Ashka öffnete seine Tasche und packte den Inhalt aus, den er Stück für Stück ordentlich und präzise vor sich au f baute, w o bei er die Finger kurz auf jedem Stück ruhen ließ: Tarotkarten, abg e griffen, alt. Es war ein Marseiller Talon aus dem einundzwanzi g sten Jahrhundert, und obwohl die Ecken der Karten auf ihrer Reise durch die Zeit gelitten ha t ten, glänzten die Bi l der in hellen, lebendigen Farben; mit dem Alter hatten die Karten an Bedeu t samkeit gewonnen. Ashka schätzte sie hoch, o b wohl er sie selten benutzte. Das Mnemo-Terminal, ein kleiner Bildschirm im Ebenholzra h men, den Ashka im Laufe der Zeit, wie es seine pe r sönliche Gewohnheit war, mit allerlei Kerben und Einschnitten ve r sehen hatte. Er stellte es so auf, daß seine Erdung den M e tallstreifen berührte, der am Fuße der Wand entlanglief. Auf der Oberkante des Bildschirms leuchtete ein winziges rotes Kontro l lämpchen, welches besagte, daß die Verbindung zur Assoziat i ons-Gedächtnisbank des Schiffes hergestellt war. Dann nahm Ashka einen kleinen roten Beutel heraus, dessen Inhalt er zur Rechten auf die Matte schüttete: kleine, weiße, sehr zerbrechl i che Knöchelchen. Seit vielen Jahren trug er sie bei sich. Er hatte sie von einem Schamanen, seinem e r sten Lehrer, geerbt, der sie ebenfalls geerbt hatte – und i m mer so weiter, durch die Jahrhunderte, bevor es Rational i sten gab, bevor man das Rationale Un i versum überhaupt begriffen hatte. Knochen. Das aus den Gelenken gelöste Rahmenwerk eines kleinen ausgestorbenen Vogels. Gorstein hatte nur einmal gefragt, warum diese Knochen Ashka so wichtig waren und ob sie ein selbständiges Orakel seien. Ashka, damals noch ein paar Jahre jünger, hatte nur gel ä chelt und dann in aller Ernsthaftigkeit erklärt: „Es sind die Knochen eines ausgestorbenen Erden-Wasservogels, des Moorhuhns, das einst auf den Gewässern des Planeten Erde schwamm, in den Luf t strömungen und Winden der Erde flog, die Erde selbst als Nest benutzte, sich mehrere Fuß tief in die Erde eingrub. So ein Vogel war eins mit allen Biot o pen der alten Erde, und in seinen Knochen ist die Erinn e rung an diese Umwelt. Werfe ich diese Kn o chen, so bilden sie beim Fallen ein Muster – hier die Wirbelsäule, dort das Brustbein, so die Beine und so die Fl ü gelknochen – oder vielleicht auch anders. Aus ihrer Konfiguration läßt sich vi e les herauslesen. Ich benutze sie selten, und nie in meiner Eigenschaft als Rationalist.“ Gorstein hatte den Kopf g e schüttelt und, ganz vorsichtig atmend, die tiefsinnigen Au s führungen des Rational i sten in sich einsinken lassen. Als er dabei einen raschen Blick auf Ashka warf, hatte er gerade noch den Schatten eines Lächelns auf den Lippen des Rati o nalisten erhascht. Nur einen Schatten, der rasch verschwand. Gorstein war etwas pikiert gewesen und hatte nicht wieder danach g e fragt. (War dieser harmlose Scherz der Anfang gewesen? Der Beginn der Korrosion …?)
Das letzte Stück auf der Matte, das wichtigste: eine g e bundene Ausgabe des ching, noch in der traditionellen U m hüllung aus schwarzer Seide. Sorgsam legte Ashka es vor sich hin, wickelte es aus, enthüllte das uralte Buch mit den von der Zeit angegilbten Blättern, die mit einer Schutzi m prägnierung b e handelt waren. Es war in einer altertümlichen Sprache g e schrieben, die nur wenige außer den Rationalisten beherrschten, der Sprache, die die Grundlage des komplex e ren Inter-Ling bildete, der Universa l sprache des Weltalls. In aller Ruhe vollendete Ashka seine subt i le Aufstellung; auch seine Hände zitterten jetzt nicht mehr. Go r stein hatte sich abgewöhnt, über die Pedanterie des Mannes zu lächeln, die er bei den traditi o nellen Vorbereitungen zu den Wandlungen an den Tag legte – übrigens auch bei allen Orakeln, mit d e nen er arbeitete. Und dabei hatte der Rationalist so gute E r folge, daß man nicht annehmen durfte, die Tradition sei o h ne Bedeutung.
Gorstein wußte, daß es nicht so sehr darauf ankam, wie oder wo oder unter welchen
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