Erdwind
Liebesakt vollzogen zu haben, höchst u n sympathisch war. Doch das war vermutlich Kultursnobi s mus.
Sie durfte es Darren eigentlich gar nicht so schrecklich übelnehmen, daß er einen Freund auf so groteske Weise en t hauptet hatte, doch beim Anblick seines Triumphes wurde ihr rege l recht schlecht. Wieder und wieder hatte sie diesen letzten grausamen Hieb vor Augen – ein Hieb nur! Welch eine Kraft! –, und jede s mal starrte sie der durch die Luft wirbelnde Kopf immer obsz ö ner an, spritzte das Blut (es war nur ein kurzes Aufsprudeln g e wesen, viel weniger, als sie sich eingebildet hatte) näher an sie heran. Auch die Erinn e rung an Darrens G e sicht verfremdete sich, sein Grinsen, sein triumphierendes Lächeln schien ihr eher ve r zerrt als nur übertrieben sieghaft.
Sie mußte sich übergeben und wandte sich ab von Moir, die jetzt still geworden war, ganz still, totenstill.
Das ist Angst, dachte sie, als sich ihr revoltierender M a gen endlich beruhigte. Das ist richtige Angst, das Ursy m ptom der Angst, ein ganz neues Erlebnis. Bei meinem zwe i ten Besuch hier – Wundschmerz, Angstschmerz. Wachse ich oder schwi n de ich, wenn ich hierbleibe? Erlange ich die wahre Mensc h lichkeit oder verliere ich sie? „Elspeth …?“
Vor Jahren, auf dem Neu-Anzar:
Sie waren bis ans Ende der Stadt gegangen. Jetzt schritt die F a milie durch den transparenten Tunnel, der über die Eisflut führte. Ihre Mutter weinte; ihr Bruder hielt die alte Dame au f recht in den Armen und konnte selbst die Tränen nur schwer zurückhalten. Ab und zu warf er einen Blick auf Elspeth. Sie schritten den Weg der Schandbefleckten.
Mein Vater hat Schande über sich gebracht; ich sollte ihn verachten, ich sollte ihn beschimpfen, seine Ohren mit me i ner Ve r achtung, meinem Haß füllen; doch wie kann ich das? Ich liebe ihn. Alex müßte ihn schlagen, sich für seine eigene Schande an dem Manne rächen, der sie verursacht hat W e gen dieses Mannes werden wir immer in Schande leben, und auf diesem Gang zum Tode sollten wir die Gelegenheit nu t zen, ihn zu schlagen, unseren Gefühlen, unserem verwund e ten Stolz Luft machen. Aber wie können wir das? Wir lieben ihn doch alle.
Ein alter Mann, der die Höhe des Mannesalters um zwa n zig Jahre überschritten hat, gebeugt jetzt, doch nicht vom Alter, sondern von der Schande. Er schritt voran, den leeren Tunnel entlang, manchmal zur Seite oder nach oben bli c kend, in die treibenden Eisnadeln, den wirbelnden Schnee. So weit nördlich, im unb e wohnten Außenbezirk der Clan-Stadt, gab es keine Wärme, weder Gefühlswärme noch ph y sische. Niemand wohnte hier, nicht einmal ein Einsiedler. Kein Mensch betrat diesen Tunnel, außer denen, die nicht verdienten, zurückz u kehren.
Mein Vater … mein armer Vater. (So klar erinnerte sie sich an diesen Tag, mit Tränen, wenn nicht in den Augen, so doch im Geiste. So bald nach ihrer Initiation, so bald nach ihrem stolz e sten Tag …)
„Ich habe Schande über meinen Rang gebracht“, hatte er zu i h nen gesagt. „Ich kann diese Forderung nicht annehmen. Ich habe keinen Mut mehr.“
Keinen Mut mehr! Ein Mann, der in den nördlichen Clan-Kämpfen gefochten hatte, der – noch früher – mit denen ste r ben wollte, die den Elektranern widerstanden hatten, der bei seiner Freilassung öffentlich geschworen hatte, daß er nie ve r gessen würde, was den Männern und Frauen angetan worden war, die gegen die Invasoren gesprochen hatten?
In seinem Alter wäre ein Amts-Duell Selbstmord. Diese Ford e rung durch einen viel jüngeren Mann war nur erfolgt, damit der Senat etwas zu lachen hatte; es gab humanere Ve r fahren, die Amtsnachfolge zu regeln. Doch da die Forderung bestand, mußte sie auch angenommen werden; und er hatte sie nicht angeno m men. Die Schande war zu groß gewesen.
Er hatte den Selbstmord durch Duell abgelehnt und ging nun dem Selbstmord entgegen, um seiner Familie ihren g u ten Namen, se i nem Sohn und seiner Tochter ihren Rang zu erhalten.
Elspeth war noch zu jung, um es völlig zu verstehen, doch sie wußte, daß sie diese Stadt haßte und diese Welt auch; sie wu ß te, daß sie hier weg mußte, weg von dieser lächerlichen Ritualbarbarei. Es schmerzte sie, daß Alex da r in anderer Meinung war, daß er sie ein gedankenloses Kind nannte, das keine A h nung habe.
Am Ende des Tunnels war ihr Vater, ohne sich noch ei n mal zu seiner Familie umzuwenden, ohne einen letzten Kuß, eine letzte Umarmung, mit einem ganz leichten
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