Erdwind
seiner Frage … Darren hat immer gesagt, den Starken mü ß te es gleich sein, was die Zukunft bringt; sie müßten leben und käm p fen ohne alle Furcht.“
„Das ist eine ziemlich häufige Ansicht“, entgegnete Elspeth l ä chelnd; „aber, Moir, jetzt solltest du das Orakel als etwas b e trachten, das dir Kraft gibt. Es hat dir gesagt, daß du Ruhm er n ten und schließlich in den crog zurückkehren wirst. Darüber sol l test du froh sein.“
„Wie kann ich denn eine Kriegerin sein, wenn ich nicht töten konnte …“ – sie sah Elspeth liebevoll an – „… weil ich me i nen Gegner so gern habe?“
Leicht verwirrt erwiderte Elspeth: „Du wirst eben eine andere Art Kämpferin sein, das ist alles. Du hast mehr Mi t gefühl als dein Bruder und die anderen. Wahrscheinlich wird es eines Tages so kommen, daß der crog sich nach dir richtet.“
Moir lächelte und blickte dann zum Tal zurück. Sie wu r de wieder ernst. „Aber Darren haßt mich noch, und ich ihn auch. Ich brauche ihn, aber ich hasse ihn. Er hat Engus get ö tet.“ Sie ballte die Fäuste und schien einem Zornesausbruch nahe, doch der Zorn ebbte ab, und sie beugte den Kopf. Sie starrte auf den kleinen schwarzen Beutel in ihrer Hand. „Er hat Engus getötet“, wiede r holte sie leise, und dann schwieg sie.
„Ich weiß“, tröstete Elspeth, „ich weiß, wie das ist.“
Moir warf ihr einen scharfen Blick zu. „Hast du einen Bruder?“
Elspeth setzte zur Antwort an. Eine Antwort schien auf ihren Lippen zu liegen, doch als ihr Hirn versuchte, die wichtigsten Bilder der Vergangenheit zusammenzuketten …
Finsternis …
Leere …
Sie spürte, daß sie totenbleich wurde. Einen Bruder? Di e ser Mann – nein, Knabe – der den schlaffen Leib … einer Frau … Mutter …? Schwester …? in den Armen hielt … Ein Jüngling, Schnee – Blut auf dem Schnee – aber ein Br u der? Bruchstücke von Bildern, ineinander verwoben. Eine Stadt, Straßen, Fahrze u ge, Leute – ein Gesicht schien aus der Menge hervorzuta u chen, das Gesicht eines Mannes, den sie eigentlich kennen müßte, und doch – es entschwand, verging, tauchte wieder weg, von den schwarzen fremden Gesichtern verschluckt. Ein Bruder?
„Nein“, sagte sie und wußte instinktiv, daß sie log, und doch konnte sie das, was wahr sein mußte, nicht glauben. „Nein, ich habe keinen Bruder.“
„Dann kannst du auch nicht wissen, wie es ist. Du kannst es nicht verstehen.“
Ein ahnungsvolles Gefühl beschlich Elspeth, während sie voran zum Felsen ging. Der Wind wurde stärker, kälter, würde ganz bestimmt zu einem ordentlichen Sturm auffr i schen; ein melancholisches Heulen in der oberen Atmosph ä re, das trübe Licht in der weiten unfruchtbaren Farnmoos-Ebene bildeten vielleicht die psychologischen Ansatzpunkte eines Gefühls, das sie für eine vorübergehende Stimmung hielt, das aber a n dauerte und immer intensiver wurde. Sie fühlte instinktiv, daß Unheil lauerte. Noch vor Stunden hatte sie sich frei von feindseligen Einflüssen g e fühlt. Ihr Streit mit Gorstein war eine Art Katharsis gewesen. Vom Zugriff der Spannung erlöst, beruhigt, weil Gorstein Ve r ständnis für die Situation bewies, hatte sie ein paar wunderbare Minuten lang das Gefühl gehabt, daß die Not vorbei war. Als sie j e doch die Lage etwas realistischer überdachte, wurde ihr klar, daß das Unheil eben erst begann. Moir und Darren waren aufs schwerste zerstritten. Das Raumschiff hatte sie ause i nandergebracht; und trotzdem waren sie einander noch i m mer verbunden. Haß war ein starkes Bind e glied, doch was sie beieinanderhielt, war mehr als Haß – Darren war immer noch für Moir verantwortlich, obwohl sie aus dem crog au s gestoßen war. Davor würde er sich auch nicht drücken; d a für sorgte der aus Brauch und Sitte gewachsene Instinkt. Aber wie sich dieses erzwungene Beieina n der auswirken würde, konnte Elspeth nicht voraussagen. Vie l leicht würde wieder eine gewisse Wärme zwischen ihnen au f kommen; vielleicht würde aber die Reibung unerträglich werden. Wenn das Orakel gesagt hatte, Moir sei dazu bestimmt, eine große Kriegerin zu werden, dann war vielleicht, da der Jün g ling die Prophezeiung kannte, ein Element der Angst hinz u gekommen, weil er gesehen hatte, wie Moir im Laufe der Zeit heranwuchs, stark wurde, immer mehr Selbstsicherheit g e wann, die sie auch brauchen würde, um außerhalb der schü t zenden Wälle des crog zu leben. Und wie würden sich beide Elspeth gegenüber
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