Erdzauber 02 - Die Erbin von Wasser
teilt sich Euch hier mit?«
Sie hob den Blick von den kleinen Scherben, sah über das weite Feld verfallenen Gesteins hinweg. Öde und leer war die Ebene, belebt nur von den steinernen Ruinen, dem silberngeränderten Gras und einer Gruppe von Eichen, die knorrig und verwittert im Wind standen. Der wolkenlose Himmel spannte sich in weitem Bogen in die Ferne, überzog die Ebene mit weitem blauem Nichts. Welche Kraft, dachte sie, würde je diese Steine wieder zum Himmel aufwachsen las-sen, sie aus der Erde emporstoßen, einen auf den anderen schichten, um ihnen einen großen, halbwegs begreiflichen Sinn zu geben, der Macht und Schönheit und eine Freiheit wie die Freiheit des Windes verhieß. Doch die Steine lagen starr und schlafend in der Umarmung der Erde.
»Stille«, flüsterte sie, und der Wind starb.
Sie hatte das Gefühl, als wäre die Welt stehengeblieben. Unbewegt stand das Gras im Sonnenschein; die Schatten der Steine lagen wie abgesteckt auf dem Boden. Selbst die Brecher, die am Fuß der Felsklippen tosten, waren still. Ihr eigener Atem lag eingezogen in ihrem Mund. Dann berührte Astrin sie, und sie hörte das Zischen seines Schwerts, als er es aus der Scheide riß. Er zog sie an sich und hielt sie fest. Unter dem kalten Kettenpanzer spürte sie den harten Schlag seines Herzens.
Aus dem Mittelpunkt der Welt stieg ein Seufzer empor. Eine Woge, die in nicht enden wollendem Brausen anschwoll, erschütterte die Felsen, als sie sich brach und zurückwich. Astrins Arm fiel von ihrer Seite. Sie sah sein Gesicht, als er zurücktrat; es sah eingefallen und knochig aus, und es erschreckte sie. Eine Möwe, die über dem Felsrand schwebte, kreischte und verschwand. Sie sah, wie er schauderte.
»Ich bin starr vor Angst«, sagte er kurz. »Ich kann nicht denken. Gehen wir.«
Sie schwiegen beide, als sie den Hang wieder hinunterritten zu den untenliegenden Feldern und der geschäftigen Straße, die in die Stadt hineinführte. Als sie quer durch eine Wiese ritten, wo Schafe laut ihren Unwillen darüber herausblökten, daß sie geschoren wurden, wich das geheime Entsetzen aus Astrins Gesicht. Rendel spürte, daß er wieder zu-gänglich war.
»Was war?« fragte sie leise. »Alles schien plötzlich stehenzubleiben.«
»Ich weiß es nicht. Das letzte Mal - das letzte Mal, als ich das spürte, starb Eriel Ymris. Ich hatte Angst um Euch.«
»Um mich?«
»Fünf Jahre lang lebte der König nach ihrem Tod mit einem Gestaltwandler an seiner Seite, den er für seine Frau hielt.«
Rendel schloß die Augen. Sie spürte, wie sich plötzlich etwas in ihr aufstaute, wie ein Schrei, den sie auf ihn loslassen wollte und der selbst die Stimmen der Schafe verschlucken würde. Sie ballte die Hände in dem Bemühen, das Verlangen zu beherrschen; sie merkte gar nicht, daß sie angehalten hatte. Erst als er ihren Namen sprach, wurde es ihr bewußt.
Da öffnete sie die Augen und sagte: »Wenigstens hatte er keinen Landerben, den er in seinen Turm am Meer verbannen konnte. Astrin, ich glaube, in mir liegt ein schlafendes Tier, und wenn ich es wecke, werde ich es bis ans Ende der Welt bedauern. In meinen Adern fließt das Blut eines Gestaltwandlers, und in mir ist etwas von seinen Kräften. Es ist beschwerlich, so etwas in sich zu haben.«
Sein gesundes Auge, das wieder ruhig und gelassen war, schien kühl bis zum Herzen ihres Rätsels durchdringen zu wollen.
»Vertraut auf Euch selbst«, meinte er, und sie holte tief Atem.
»Das ist so, als träte ich mit geschlossenen Augen auf eines meiner eigenen wirren Fadenknäuel. Ihr habt eine tröstliche Art, die Dinge zu sehen.«
Er umfaßte leicht ihren Arm, ehe sie sich wieder in Bewegung setzten. Als sie ihre Hand öffnete, sah sie, daß sich der Abdruck des kleinen Steins, den sie hielt, tief in ihre Handfläche eingegraben hatte.
Lyra kam zu ihr, um mit ihr zu sprechen, als sie in das Haus des Königs zurückkehrte. Rendel saß am Fenster und blickte auf einen Gegenstand in ihrer Hand, der wie ein Wassertropfen glitzerte.
»Habt Ihr Euch schon einen Plan überlegt?« fragte Lyra.
Rendel hob den Kopf. Sie spürte die Unrast und die Gereiztheit in den gemessenen, beherrschten Bewegungen, die waren wie die eines Tieres, das man gefangen und gezähmt hatte. Mit beträchtlicher Anstrengung sammelte sie ihre Gedanken.
»Ich glaube, Bri Corvett könnte dazu überredet werden, wieder nach Norden zu schwenken, sobald wir den Fluß hinter uns gelassen haben, vorausgesetzt, es gelingt uns,
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