Erdzauber 02 - Die Erbin von Wasser
sich in ihre Gedanken: das Gesicht eines Fremden jetzt, müde, bitter, gequält. Auch Morgon konnte ihr nicht helfen, doch er hatte die Wahrheit gemeistert, und er konnte gemeinsam mit ihr noch eine weitere Konfrontation wagen.
Ihre Hände regten sich, noch ehe sie sich dessen bewußt wurde. Sie leerten die Kleider aus ihrem Bündel, stopften die Früchte, Nüsse und das süße Gebäck, das auf dem Tisch lag, hinein, schoben ein weiches Fell nach, das über einem der Sessel lag, schnallten das Ränzel wieder zu. Sie warf sich ihren Umhang über die Schulter und glitt lautlos aus dem Gemach, die weiße, sich drehende Flamme wie eine Botschaft zurücklassend.
Sie konnte im Dunkeln die Stallungen nicht finden, deshalb lief sie zu Fuß aus dem Hof des Königs, wanderte im dünnen Mondlicht die Bergstraße zur Öse hinunter. Von Bris Karten wußte sie, daß die Öse, sich zwischen den Hügeln zu Füßen des Berges Isig hindurchschlängelnd, ein Stück südwärts floß; sie konnte dem Flußlauf folgen, bis er sich nach Osten wandte. Morgon zog von Osterland aus sicherlich südwärts, um seine Botschaft nach Herun zu tragen; oder war er vielleicht wie die Zauberer auf dem Weg nach Lungold? Es spielte keine Rolle; südwärts mußte er auf jeden Fall, und da sein hellseherischer Geist auf Gefahr eingestimmt war, würde er es vielleicht spüren, daß sie allein und zu Fuß durch das Hinterland wanderte, und würde seiner Ahnung nachgehen.
Sie stieß auf einen alten Ziehweg, von tiefen Furchen durchbrochen, mit Gras und Unkraut überwuchert. Er führte am Flußufer entlang, und sie folgte ihm. Bei ihrer Flucht aus dem
Haus des Königs war ihr zunächst so gewesen, als machte ihr Schmerz sie unsichtbar, unangreifbar für Müdigkeit, Kälte, Furcht. Doch das sprudelnde, unaufhörliche Geplapper der Öse riß sie aus ihrer Versunkenheit, und sie fröstelte in der Dunkelheit. Schatten tanzten im Mondlicht auf dem Pfad, und die Stimme des Flusses überdeckte andere Stimmen, Geräusche, von denen sie nicht sicher war, ob sie sie wirklich hörte, Geraschel, das von irgendwo hinter ihr zu kommen schien. Die uralten Fichten mit ihren ruhigen, runzligen Gesichtern, die sie an Danans Gesicht erinnerten, gaben ihr Trost. Einmal hörte sie ganz in der Nähe knurrende Tiere durch das Gehölz brechen, und sie blieb wie angewurzelt stehen. Da ging ihr auf, daß es ihr im Grunde gleichgültig war, was mit ihr geschah, und wahrscheinlich auch den Tieren. Der Fluß trug die Geräusche ihres Kampfes fort. Sie lief weiter, bis der Ziehweg unvermittelt in einem Gestrüpp endete und der Mond sich zum Untergang neigte.
Sie packte das Fell aus, legte sich nieder und deckte sich zu. Erschöpft schlief sie ein und hörte in ihren Träumen über das unablässige Murmeln der Öse hinweg sanftes Harfenspiel.
Bei Sonnenaufgang erwachte sie; ihre Augen brannten unter der Berührung der Sonne. Sie benetzte ihr Gesicht mit Wasser aus dem Fluß, trank etwas, aß dann von dem, was sie in ihrem Bündel hatte. Ihre Glieder schmerzten; ihre Muskeln wehrten sich gegen jede Bewegung, bis sie wieder zu laufen begann und sie vergaß. Sie fand es nicht schwierig, sich ihren eigenen Weg am Fluß entlang zu bahnen; wo ihr Gestrüpp den Weg versperrte, schlug sie einen Bogen; wo die Flußböschung sich steil in die Höhe schwang, kletterte sie über Felsen; wo das Ufer unpassierbar war, raffte sie ihre zerfetzten Röcke und watete durch das Wasser. Sie wusch sich die zerschrammten und zerkratzten Hände im Fluß und spürte, wie die Sonne ihr ins Gesicht stach. Sie achtete nicht auf die Zeit, richtete alle ihre Sinne nur auf die Bewegungen ihres Körpers, bis ihr langsam und unausweichlich klar wurde, daß sie verfolgt wurde.
Da machte sie halt. Müdigkeit und Schmerz holten sie ein, höhlten sie aus, bis sie, auf einem Felsbrocken im Fluß stehend, zu schwanken begann. Sie beugte sich nieder, trank Wasser, blickte wieder hinter sich. Nichts regte sich in der trägen, heißen Mittagsstunde, und dennoch spürte sie Bewegung, fühlte, daß jemand ihren Namen dachte. Noch einmal trank sie, wischte sich den Mund mit dem Ärmel und machte sich daran, ein silbernes Fädchen aus dem Ärmel zu lösen.
Sie ließ mehrere kunstvoll verschlungene Fäden auf ihrem Weg zurück. Sie zog lange Grashalme aus der Erde und verknotete sie; ihr Auge sah sie als das, was sie waren, doch einem Menschen oder einem Pferd, die über sie stolperten, würden sie als straffgespannte Seile
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