Erebos
der Glasfassade des Eingangs stehen und stützte die Hände auf die Knie. Ihm war schwindelig.
»Sie werden ihn in die Notaufnahme gebracht haben«, meinte Emily. »Die ist weiter hinten.«
»Aber die Auskunft ist sicher hier. Ich gehe jetzt fragen.«
Nick trat in die Halle. Der Weg zum Infodesk war wie der Gang zum Richtblock. Die dünne blonde Frau, die dort die Auskünfte erteilte, würde über Nicks weiteres Leben entscheiden. Der Gedanke drehte ihm den Magen um.
»Guten Tag. Ist hier ein Jamie Cox eingeliefert worden?«
Sie musterte ihn durch schmale Brillengläser.
»Sind Sie ein Verwandter?«
»Jamie Cox. Es war ein Verkehrsunfall. Ich muss wissen, wie es ihm geht, verstehen Sie?«
Die Blonde setzte ein schmales Lächeln auf. »Wir dürfen nur Angehörigen Auskunft erteilen. Sind Sie mit Mr Cox verwandt?«
»Wir sind Freunde.« Beste Kumpel.
»In diesem Fall tut es mir leid.«
Nick schleppte sich mehr aus dem Krankenhaus, als dass er ging. Sein Urteilsspruch war verschoben worden. Wie sollte er das aushalten? Wie konnte irgendjemand erwarten, dass er das aushielt?
Emily führte ihn zu der kleinen Grünfläche, die ein Stück abseits des Krankenhauses lag. Der Boden war kalt und ein wenig feucht; Nick zog seine Jacke aus, damit sie eine Unterlage hatten, auf die sie sich setzen konnten.
»Ich kann nicht nach Hause«, sagte er. »Erst wenn ich weiß, was mit Jamie ist.«
Sie schwiegen eine Weile und sahen den vorbeifahrenden Autos nach.
»Wir könnten die Schule anrufen«, schlug Emily vor. »Die werden vielleicht auf dem Laufenden sein.«
»Nein, nicht die Schule.« Wieder krampfte Nicks Magen sich zusammen. »Ob seine Eltern es schon wissen?«
»Bestimmt. Die haben sie sicher angerufen. Wenn er noch lebt.« Emily zupfte einen Grashalm aus und blickte angestrengt auf die gegenüberliegende Bushaltestelle. »Persönlich kommen sie nur vorbei, wenn jemand tot ist. Sie kommen zu zweit, wahrscheinlich schafft man so etwas alleine nicht. Sie fragen nach deinem Namen und dann sagen sie, wie leid es ihnen tut …«
Nick sah sie wortlos von der Seite an. Sie lächelte schmerzlich.
»Mein Bruder. Ist aber schon lange her.«
»War es auch ein Unfall?«
Emilys Gesicht wurde hart. »Ja. Ein Unfall. Die Polizei hat damals zwar gesagt, es sei Selbstmord gewesen, doch das ist total bescheuerter Schwachsinn.«
Ein weiteres Büschel Grashalme fiel Emilys Fingern zum Opfer. Nick biss sich auf die Lippen. Er wusste nicht, ob er nachfragen oder es besser lassen sollte. Wahrscheinlich war beides falsch.
»Er war ein so guter Schwimmer«, flüsterte Emily. »Er wäre nicht ins Wasser gesprungen, um sich umzubringen.«
Nick legte ihr einen Arm um die Schulter, ohne Angst, dass sie ihn wegstoßen würde. Keiner würde den anderen wegstoßen. Sie umarmten sich, nicht wie Verliebte, sondern wie zwei Menschen, die sich an etwas festhalten müssen.
Es war Emily, die Jamies Vater aus dem Krankenhaus kommen sah. Er wirkte so gehetzt, dass Nick sich scheute, ihn anzusprechen, doch Emily sah das anders. Sie sprintete Mr Cox nach und hielt ihn auf. Nick sah die beiden miteinander sprechen, konnte aber nicht hören, was sie sagten. Mr Cox wischte sich mehrmals mit der Hand über die Augen und breitete die Arme in einer hilflosen Geste aus, die Nicks Herz sinken ließ. Emily nickte mehrmals und drückte Jamies Vater zum Abschied lange und fest die Hand, bevor sie zu Nick zurückkehrte.
»Er lebt. Im Krankenwagen hatte er einen Herzstillstand und sie mussten ihn reanimieren, aber jetzt ist er einigermaßen stabil, sagt sein Vater.«
Das Wort Herzstillstand hatte Nicks eigenes Herz stolpern lassen. »Stabil, sagst du. Das ist gut.«
»Nicht wirklich gut. Sie haben ihn in ein künstliches Koma versetzt. Er ist so schwer verletzt, sein linkes Bein ist mehrmals gebrochen, seine Hüfte auch. Und er hat ein Schädel-Hirn-Trauma.« Sie sah weg, an Nick vorbei. »Kann sein, dass etwas zurückbleibt. Wenn er es übersteht.«
»Was soll zurückbleiben? Was meinst du mit zurückbleiben?«
Sie strich sich das Haar aus der Stirn. »Dass er behindert sein könnte.«
Die Welle der Erleichterung, die Nick wenige Sekunden lang getragen hatte, ebbte wieder ab. Behindert. Nein. Auf keinen Fall. Er schob den Gedanken weit weg. Das würde nicht passieren, weil es nicht passieren durfte.
»Können wir ihn besuchen?«
»Leider nein. Er ist auf der Intensivstation. Er ist nicht mal bei Bewusstsein und würde gar nicht merken, dass wir da
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