Erebos
sind. Wir müssen einfach abwarten.«
Das tat Nick die nächsten zwei Tage lang und es fühlte sich an wie die Hölle. Ununterbrochen. Egal, was er sonst noch tat – essen, lernen, mit anderen Menschen sprechen –, in Wirklichkeit wartete er auf die Nachricht, dass Jamie wieder wach war und dass er ganz gesund werden würde. Nur manchmal drifteten Nicks Gedanken ab und Bilder blitzten auf- die Arena und das Glotzauge, BloodWork und seine riesige Axt, am häufigsten aber der Bote. So wie er beim letzten Mal ausgesehen hatte, als seine gelben Augen rot wurden. Es quälte ihn. Er durfte nicht an Erebos denken, während Jamie im Koma lag. Doch die Bilder kehrten immer wieder.
Es war Wochenende, nicht einmal die Schule bot Ablenkung. Bei jedem Klingeln des Telefons zuckte Nick zusammen, hin- und hergerissen zwischen Panik und Hoffnung. ›Hau ab‹, waren die letzten Worte gewesen, die er Jamie entgegengeschleudert hatte; jedes Mal wenn er daran dachte, krümmte er sich innerlich. Hau nicht ab, Jamie, hau bitte nicht ab.
Am Montag in der Schule war Jamie Thema Nummer eins, natürlich. Jeder hatte irgendetwas gesehen oder gehört und wollte darüber erzählen. Nur die, die wirklich in der Nähe gestanden hatten, schwiegen bedrückt. Allen voran Brynne, die ungeschminkt fast nicht wiederzuerkennen war. Am Tag des Unfalls war sie selbst noch ins Krankenhaus gebracht worden, man munkelte, sie hätte psychologische Betreuung gebraucht.
Niemand redete mehr über Eric und Aisha. Nick hatte den Eindruck, dass Aishas Erleichterung darüber größer war als Erics.
Der Nachmittag vor dem Krankenhaus hatte zwischen Nick und Emily nach außen hin nichts verändert. Sie setzten sich im Unterricht nicht nebeneinander und teilten auch keinen Tisch beim Mittagessen. Doch es gab einen Unterschied zu früher. Er bestand in kleinen Blicken, einem etwas länger gehaltenen Lächeln oder einem aufmunternden Nicken. Solche Gesten hatte Emily Nick gegenüber zuvor nie gemacht. Für ihn waren es die einzigen farbig leuchtenden Punkte in einem düsteren, endlos scheinenden Meer des Wartens.
Am Dienstag gab es endlich Neuigkeiten, Mr Watson verkündete sie in der Englischstunde. »Jamies Eltern haben angerufen, er ist außer Lebensgefahr. Aber er wird weiterhin in einem künstlichen Koma gehalten. Wie lange noch, wissen die Ärzte derzeit nicht. Trotzdem, es ist eine sehr gute Nachricht. Ich kann euch gar nicht sagen, wie froh ich bin.«
Die Erleichterung war im ganzen Raum spürbar wie ein Windstoß. Einige applaudierten, Colin sprang auf und vollführte ein Tänzchen. Nick selbst wäre am liebsten Emily um den Hals gefallen, beschränkte sich aber darauf, mit ihr einen langen Blick zu tauschen. Voller Freude, aber mit einem Rest von Unsicherheit. Mr Watson hatte nichts darüber gesagt, ob auch die Gefahr einer Behinderung gebannt war.
23.
Es war in der nächsten Freistunde. Nick saß allein in einem der Studienräume und versuchte, sich chemische Formeln einzuprägen. Die Tür zum Korridor stand offen, und als er zwischendurch aufsah, ging Colin gerade vorbei. Sehr leise, sehr vorsichtig. So vorsichtig, dass schlagartig Nicks Neugier erwachte. Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf, beinahe ohne ein Geräusch zu machen. Er sah Colin weiter den Gang entlangschleichen. Jetzt bog er links ab. Nick folgte ihm. Gab es irgendwo ein Geheimtreffen?
Colin ging die Treppen hinunter. Es sah aus, als wolle er zu den Garderoben. Was kein schlechter Platz für ein Treffen wäre um diese Uhrzeit. Nick blieb hinter ihm, in großem Abstand, verlor ihn einmal fast aus den Augen, entdeckte ihn aber wieder – wie vermutet bei der Treppe zu den Schülergarderoben. Er sah, wie Colin suchend die Reihen mit Jacken und Mänteln entlangging und schließlich stehen blieb. Von seiner Position aus konnte Nick nicht genau erkennen, was Colin zwischen all den Kleidungsstücken tat, und näher gehen konnte er nicht, ohne bemerkt zu werden. Er kniff die Augen zusammen und sah, wie grüner Stoff sich bewegte. Nur ganz kurz. Sekunden später trat Colin den Rückweg an und Nick machte sich schleunigst aus dem Staub, versteckte sich auf der nächstliegenden Toilette und zählte bis fünfzig. Nun war Colin sicher weg.
Nick fand das grüne Kleidungsstück sofort. Es war ein Trenchcoat, der einem Mädchen gehören musste. Was hatte Colin damit gemacht?
Nick sah sich gründlich um, bevor er seine Hand in die Manteltasche schob. Er ertastete ein säuberlich
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