Erebos
weil sie keinen eigenen Computer hatten. Ich glaube, dass Aisha einen bekommen hat.«
Das ergab Sinn, würde Victor als Puzzleteilchen aber nicht weiterhelfen.
»Sonst noch etwas?«
»Gott, bist du neugierig.« Sie seufzte. »Ja, ich habe irgendwelche Dokumente kopiert, die ich aus einem Papierkorb in Kensington Gardens gefischt habe. Aber frag mich nicht, was das genau war. Juristisches Zeug, ein ganzer Stapel Papier. Ich habe kein Wort verstanden.«
Nick hätte eine Menge gegeben, um einen Blick auf das ›juristische Zeug‹ werfen zu können.
»Noch etwas? Hast du irgendwann jemanden bedroht oder … etwas kaputt gemacht?«
Jetzt glitt ihr Blick zur Seite. »Nein. Aber ich weiß, was du meinst. Nein, habe ich nicht. Der Rest meiner Aufträge war harmloses Zeug. Für jemanden eine Facharbeit schreiben, eine Handykarte kaufen und hinterlegen, solche Sachen.«
»Und wieso bist du rausgeflogen?«
»Weil meine bescheuerte Mutter mir für drei Tage den Internetanschluss gesperrt hat. Danach hat der Bote behauptet, ich hätte keinen Wert mehr für ihn. Ist das nicht eine Frechheit? Ich könnte immer noch heulen vor Wut! Als ob das meine Schuld gewesen wäre!«
»Okay. Danke«, sagte Nick. »Du hast mir sehr geholfen, aber ich denke, du gehst jetzt besser, bevor einer der Regelwächter uns hier findet.«
Sie nickte. »Ganz schön verrückte Sache, nicht? Glaubst du, dass wir uns beim Spiel einmal begegnet sind?«
Nick lächelte. »Ich weiß nicht. Wie hast du geheißen?«
Zuerst zögerte sie ein wenig, dann zuckte sie mit den Schultern. »Samira.«
»Hey, dann kennen wir uns wirklich! Du warst eine Katzenfrau, stimmt’s? Und du warst dabei, als ich das erste Mal eingestiegen bin!«
»Ehrlich? Wer warst du denn?«
Irgendwo weit hinten versetzte es Nick immer noch einen Stich, wenn er an sein anderes Ich in der Vergangenheitsform dachte.
»Sarius«, antwortete er. »Ich war Sarius.«
27.
Endlich wieder Wochenende. Und endlich eine Einladung von Victor. Sie alle würden bei ihm übernachten, in seinem Studio, wie er es nannte. »Spielen, quatschen, Tee trinken«, sagte er am Telefon. »Du musst unbedingt kommen. Ich habe ein paar tolle Sachen rausgefunden!«
»Gut, dass du wieder unter Leute gehst«, sagte Mum, als er ihr von seinen Plänen erzählte. »In letzter Zeit bist du ja kaum vom Schreibtisch weggekommen.«
Mit Schlafsack, Isomatte und einem enormen Vorrat Knabberzeug machte Nick sich auf den Weg. Er musste einen befremdlichen Anblick abgeben. An jeder Kreuzung, jeder Ecke sah er sich mehrmals um, ob ihm auch wirklich niemand folgte, und fuhr wieder unglaubliche Umwege mit der U-Bahn, um eventuelle unsichtbare Verfolger abzuschütteln.
»Willkommen, Freund!« Victor öffnete ihm die Tür und nahm ihm seine Sachen ab. »Ich hatte so lange schon keine Pyjamaparty mehr! Ich hoffe, du sagst Ja zu Tee und Hallo zu Emily!«
Emily saß am gleichen Platz wie beim letzten Mal. Als Nick eintrat, blickte sie kurz hoch, deutete entschuldigend auf ihr Notebook und widmete sich wieder dem Spiel. Hinter ihr an der Wand lehnte ein roter Campingrucksack. Würde sie auch über Nacht bleiben?
Auf den quietschbunten Sofas im Zimmer nebenan lümmelten bereits Speedy und ein Mädchen, dessen Haare pechschwarz gefärbt und an einer Kopfseite abrasiert waren.
»Kate«, stellte Speedy sie vor. »Meine Braut.«
»Freut mich.«
Kate lächelte und entblößte dabei strassverzierte Schneidezähne.
»Wird Zeit für dich, Speedy«, sagte Victor. »Und du weißt ja, nicht den Champion raushängen lassen.«
»Bin doch nicht doof«, brummte Speedy und zog ab. Er setzte sich an einen anderen Computer als beim letzten Mal.
»Das muss so sein«, erklärte Victor, der wohl Nicks Blick bemerkt hatte. »Das Erste, was das Programm garantiert checkt, ist die IP-Adresse. Wenn es die kennt, lässt es dich nicht mal das klitzekleinste Tannenbäumchen der Eröffnungssequenz sehen.«
Da hatte Nick mit seiner Idee, Finns Notebook zu leihen, gar nicht so falsch gelegen. »Wie lief deine Graffiti-Aktion?«
»Oh. Gut, wenn man so will.« Victor stellte für Nick eine Tasse auf den Tisch, die die Form eines Kraken hatte, der freundlicherweise zwei seiner Fangarme zu einem Henkel verschränkte. »Ich habe den Zettel gefunden, bin zu der Adresse gefahren, habe gesprayt und wurde nicht erwischt.«
Victor räumte ein paar Computerzeitschriften aus dem Weg und zog ein Foto hervor: eine Hausmauer, auf der »Wer unsere Träume stiehlt,
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