Erfolg
plastisch von dem Untergrund desPapiers abheben. Sie beginnt, die Handschrift zu sezieren nach den klugen Methoden, die sie gelernt hat. Aber sie weiß, daß sie auf diese Art zu keinem Bild aus der Handschrift gelangen kann. Auch macht sie keinen ernsthaften Versuch, sich zu konzentrieren.
Nein, keineswegs war sie verpflichtet damals, Martin von der Haider loszulösen. Sie war keine Gouvernante. Es war überhaupt Unsinn, einen Menschen anders haben zu wollen. Vorher mußte man sich klar sein über einen Menschen, ehe man sich an ihn band. Aber es war schade, daß man bei Martin so gar nicht auf Grund stieß. Er fühlte sich am wohlsten im Zwielicht. Gab sich dabei ohne Hinterhalt. Ging so weit in seiner Offenheit, daß sie es geradezu schamlos fand, wie er dem Nächstbesten vertrauliche Dinge erzählte. Aber man konnte ihn aufblättern wie eine Zwiebel, Blatt um Blatt, und stieß auf nichts Festes. Entscheidungen zögerte er hinaus. Mochten die Dinge durcheinandergehen: einmal, so oder so, löste sich alles von selbst. Warum soll sich er mit den Lösungen abplagen?
Sie hörte draußen den schweren Schritt der Tante Franziska Ametsrieder, mit der sie zusammen wohnte und die den Haushalt führte. Bestimmt wieder wird die Tante mit resoluten Urteilen über den Prozeß nicht zurückhalten, handfeste, kernige Meinungen über den Mann Krüger abgeben. Johanna nahm sonst der Tante Ametsrieder ihr gemacht resolutes Auftreten nicht übel, vielmehr pflegte sie sie damit zu necken, freundschaftlich, zu beider Vergnügen. Aber heute ist sie nicht in der Stimmung, mit der Tante Gefühle und Werturteile auszutauschen. Hell und entschlossen durch die versperrte Tür erklärte sie, sie habe zu arbeiten, so daß die Tante gekränkt und streitbar abzog.
Von neuem strebt sie, sich zur Konzentration auf die Schriftprobe zu zwingen. Sie hat die Analyse für diesen Abend versprochen, es liegt ihr nicht, jemanden warten zu lassen. Aber es will heute absolut nicht gehen.
Die reinste Freude aneinander hatten sie gehabt, wenn sie reisten. Unbeschwert dann, jungenhaft lustig, gab er sich allenEindrücken hin, jubelnd über jede Freundlichkeit der Witterung, tief gekränkt über jedes zu primitive Wirtshaus. Sie dachte an Abende in Hotelhallen, wenn sie zusammen saßen, von den Gesichtern der übrigen Gäste Art, Beruf, Schicksal ablesend. Martin hatte die spannendsten, interessantesten Lebensläufe zusammenfabuliert, kleine, abgelegene Details aus irgendeinem Winkel eines Gesichts sicher erspürt; aber im großen hatte sich seine Deutung sehr oft falsch erwiesen. Es war merkwürdig, daß jemand, der in Bilder so tief hineinsah, so wenig praktische Psychologie besaß.
Denn wie er sich in Kunstdinge hineinwühlen konnte, wie er benommen war, ohne Vorbehalt hingegeben, verwandelt vor Kunst, das zu sehen war schön und beglückend. Ihr gefiel ein Bild, es rührte sie an. Aber daß ein Mensch, soeben noch täppisch launenhaft, im nächsten Augenblick ehrfürchtig werden konnte, fähig, sich selber auszulöschen für Kunst, dies Wunder reizte sie immer von neuem.
Dr. Geyer hatte sicher recht, daß es klüger war, wenn sie ihn in diesen Tagen nicht sah. Doch es war nicht leicht. Sie hätte gern seine fleischigen Wangen gestreichelt, ihn an seinen dichten Brauen gezupft. Sie und dieser eitle, lustige, sanguinische, in Kunst lebendige, geckenhafte Mann gehörten zusammen.
Sie stand auf mit ruckartig heftiger Bewegung, zog die Jalousien hoch, stellte ihre Graphologie beiseite. Man konnte nicht so dasitzen und untätig abwarten. Sie läutete nochmals bei Dr. Geyer an, diesmal in der Wohnung. Die nervöse, heisere Stimme der Haushälterin Agnes war im Apparat. Nein, sie wußte nicht, wo Dr. Geyer zu erreichen war. Aber da Fräulein Krain nun einmal am Apparat sei, möchte sie sie bitten, sich doch des Herrn Dr. Geyer ein wenig anzunehmen. Auf sie, die Haushälterin, höre er ja nicht. Es sei ein Kreuz mit dem Mann. Er schlinge das Essen nur so hinunter. Für nichts habe er Zeit. Er schlafe nicht. Er vernachlässige seine Kleidung, daß es eine Schande sei. Er habe ja niemanden. Wenn das Fräulein es ihm sage, dann kriege er es wenigstenseinmal zu hören. Denn wenn sie, Agnes, davon anfange, nehme er Akten vor, Zeitungen, ein Buch.
Johanna Krain erwiderte eine ungeduldige, halbe Zusage. Alle wollten etwas von ihr. Sie hat jetzt, weiß Gott, andere Sorgen als um die Kleider des Dr. Geyer.
Aber das war immer so gewesen. Mit einer sonderbaren
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