Erfolg
Selbstverständlichkeit hatte man gerade von ihr immer erwartet, daß, wenn etwas schiefging in ihrer Umgebung, sie es wieder ins Gleis bringen werde. Schon wie sie nach der Scheidung ihrer Eltern als halbes Kind hin und her pendelte zwischen Vater und Mutter, war das so gegangen. Der Vater, vielbeschäftigt, in sich versperrt, hatte erwartet, daß sie den durch sein unregelmäßiges Leben recht schwierigen Haushalt in Gang halte, und hatte schweren Krach gemacht, wenn einmal etwas nicht stimmte. Sie mußte, als Halbwüchsige, dafür sorgen, daß neue Lieferanten neuen Kredit gaben, daß, kamen unerwartete Gäste, für ihre Bequemlichkeit alles vorbereitet war, sie mußte die Führung des Hauses den immer wechselnden Finanzverhältnissen des Vaters anpassen. Lebte sie bei der Mutter, so hatte sie alle schwierigeren und unangenehmen Dinge zu verrichten; denn die Mutter, Kaffeeklatsch im Kreis von Freundinnen liebend, behielt sich das Jammern, der Tochter die Arbeit vor. Später, als sie sich, nach dem Tod des Vaters, mit der wiederverheirateten Mutter endgültig verkracht hatte, nutzten ihre Bekannten in weitem Umkreis ihre Gefälligkeit aus und suchten selbst in abgelegenen Fällen gerade bei ihr Rat und Hilfe.
Daß sie da, wo man sie ernsthaft gebraucht hätte, daß sie im Fall Krüger versagt hatte, ärgerte sie wütend. Jetzt wußte sie genau, es war ein Fehler, daß sie sich nicht früher, energischer um Martin gekümmert hatte. Ihre Theorie von der notwendigen Selbständigkeit des einzelnen, in die man ohne Aufforderung des andern nicht eingreifen dürfe, war zu bequem. Wenn man sich an einen Menschen bindet wie sie an Martin, wissend, welcher Art er ist, dann hat man eben die Verantwortung für ihn zu übernehmen.
Das Kinn in die kurze, großporige Hand gestützt, saß sie am Tisch, dachte an den Martin jener Stunden, zu dem sie am entschiedensten ja gesagt hatte. Wie sie etwa in der kleinen, langsamen Stadt gewesen waren, mit der alten, geschmackvollen Bildergalerie, die Martin für die Münchner Sammlung zu plündern beabsichtigte. Wie überlegen und überzeugend er die mißtrauischen Provinzgelehrten hereingelegt hatte, ihnen die alten Schinken aufbindend, die er aus seiner staatlichen Sammlung forthaben wollte, und ihre schönsten Dinge ihnen fortschwatzend. Als dann nach langwierigen Verhandlungen der umständliche Tausch festgelegt war, hatte Martin frecherweise, sich und ihr zum Spaß, noch die Bedingung gestellt, daß der Magistrat jener Stadt seine Verdienste um die Komplettierung der städtischen Galerie gebührend feiern und ihm ein Festdiner geben müsse. Sie saß da, Kinn in die Hand geschmiegt, das kräftige Gesicht mit der stumpfen Nase gesenkt. Sie sah deutlich vor sich das Gesicht Martins, wie er mit spitzbübischem Ernst dem mühsamen Toast zuhörte, den der Bürgermeister auf ihn ausbrachte.
Dann auf einmal wieder war sie mit Martin in Tirol. Neben ihnen im Coupé saß der pedantische, angelsächsische Herr, der die Nase immer im Reiseführer kleben ließ, den Kopf kurzsichtig um sich stieß, nie eruieren konnte, ob die Naturschönheiten rechts oder links seien. Martin hatte ihm zur Freude der Mitreisenden unermüdlich und ernsthaft verkehrte Auskunft gegeben, seine Zweifel mit Scharfsinn und Geistesgegenwart zur Ruhe gebracht, ihn überzeugend, belanglose Hügel seien berühmte Gipfel, Bauernhäuser Schloßruinen, einmal auch, als der Zug eine Stadt durchfuhr, eine Mariensäule sei ein Männerdenkmal.
Sehr genau hatte sie alles das im Gedächtnis. Oh, sie erinnert sich überhaupt an vieles, sehr im Detail erinnert sie sich. Allen Respekt vor hergebrachten Begriffen, Heiligkeit des Eides, Verantwortung vor der Gesellschaft und dergleichen, aber sie hat es jetzt satt und beruft sich auf ihr gutes Gedächtnis. Sie erinnert sich genau der Stunde, es war zwei Uhr,als Martin damals zu ihr kam. Wieso weiß sie es so genau? Deshalb, weil sie ursprünglich für den Tag hernach einen Ausflug ins Gebirge vorhatten. Aber Martin bestand darauf, auf das Fest zu gehen. Sie hatten sich gestritten darüber. Dann war Martin eben doch unerwartet zu ihr gekommen. Hatte sie geweckt. War es nicht natürlich, daß sie auf die Uhr geschaut und sich die genaue Stunde gemerkt hatte? Ja, so war es, so klingt es durchaus plausibel. Wenn der Chauffeur Ratzenberger gute Gründe hat für sein genaues Gedächtnis, sie hatte keine schlechteren. Genau so war es. So wird sie aussagen. Unter Eid. Und das so bald wie
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