Erfrorene Rosen
sarkastisch zu.
»Nach dem Fall mit dem kleinen Jungen flog das Haus in die Luft«, sagt Kylmänen. »Da sehe ich einen klaren Zusammenhang. Außerdem kommt noch dazu, dass der Killer inzwischen Strafanzeige erstattet hat. Steht auch hier in der Zeitung.«
Olli begreift überhaupt nichts mehr. Strafanzeige? Weshalb? Gegen wen?
Kylmänen schlägt die Zeitung auf und sucht die kurze Meldung heraus. »Hier. Der Täter hat Strafanzeige gegen die Zivilisten erstattet, die ihn am Tatort festgenommen haben. Seiner Meinung nach haben die Leute bei der Festnahme unnötige Gewalt angewandt, was als Körperverletzung zu werten ist. Schadenersatz fordert er auch.«
Tiefe Stille senkt sich über den Raum. Die Tücken des Rechtssystems verschlagen ihnen die Sprache. Zugleich ist ihnen klar, dass die Episode auch andere Reaktionen auslösen kann.
»Womöglich begegnen die Eltern des kleinen Jungen dem Kerl eines Tages beim Einkaufen oder sonstwo«, sagt Olli leise. »Dem Kerl, der ihren Sohn getötet hat, zu einem Zeitpunkt, als er eigentlich hinter Gittern sitzen sollte. Wie können sie das verkraften? Wo bleibt da die Gerechtigkeit?«
»Was sollte man deiner Meinung nach tun?«, fragt Tossavainen. »Willst du die Todesstrafe wieder einführen?«
»Darum geht es nicht«, wehrt Olli ab.
»Worum denn dann?«
»Darum, dass jemand ein halbes Jahr nach einem Totschlag wieder freigelassen wird. Bei der Vorgeschichte.«
»Deiner Ansicht nach ist an dem System also etwas faul?«, vergewissert sich Tossavainen.
»Allerdings. Geht das aus diesen Zeitungsberichten nicht ziemlich klar hervor?«
»Demnach handelt unser Verdächtiger ganz richtig?«
»Vielleicht … vielleicht ist es gut, dass jemand protestiert.«
»Was sollten wir dann tun?«
Darauf weiß Olli keine Antwort.
»Es ist nicht immer so einfach zu sagen, was richtig und was falsch ist«, beantwortet Tossavainen seine eigene Frage, nachdem er Olli Zeit zum Nachdenken gelassen hat. »Denk immer daran, dass es nicht unsere Aufgabe ist, über das Strafmaß zu entscheiden. Wir haben dafür zu sorgen, dass alles so geschieht, wie es richtig ist. Wir stellen sicher, dass das Recht nicht dem Unrecht zu weichen braucht.«
»Aber ist hier nicht genau das passiert?«, protestiert Olli. »Ist hier nicht das Recht dem Unrecht gewichen? In all diesen Fällen wird doch ausgerechnet der Missetäter belohnt, seine Rechte werden respektiert, während die Opfer noch einen zusätzlichen Fußtritt bekommen.«
»Ich habe nie behauptet, dass es einfach ist, sich durch diese Scheiße zu wühlen und trotzdem seinen Kopf durchzusetzen«, versetzt Tossavainen nachdrücklich und sieht Olli betont lange in die Augen.
Es kommt selten vor, dass Olli vollkommen sprachlos ist. Irgendetwas fällt ihm immer ein, wenn nicht sofort, dann doch nach einer kleinen Weile. Aber diesmal nicht. Vielleicht hat die Kompliziertheit des Lebens ihn vorübergehend überwältigt.
»Die Probleme, mit denen wir uns herumschlagen, sind wie eine verdammt hohe, undurchsichtige Hecke«, erklärt Tossavainen. »Dahinter liegt ein spiegelklarer Teich, in den wir Steine werfen müssen. Die Ringe, die dabei auf dem Wasser entstehen, bekommen wir nicht zu Gesicht. Wir können sie uns nur vorstellen und ausmalen. Und wir brauchen sie auch nicht zu sehen. Weißt du, warum nicht?«
Olli weiß es nicht. Ratlos sieht er Kylmänen an, der aber ebenfalls im Dunkeln zu tappen scheint.
»Weil es nicht unsere Aufgabe ist, die Ringe zu betrachten. Unser Job ist es, Steine zu werfen. Hauptsache, es entstehen überhaupt Ringe.« Tossavainen sieht Olli an, wie um sich zu vergewissern, dass seine Erklärung angekommen ist.
Kylmänen schmunzelt belustigt. Nach so vielen Dienstjahren hat er nicht mehr damit gerechnet, eine originelle, neuartige Charakterisierung seines Berufs zu hören. Schon gar nicht aus Tossavainens Mund.
»Unser Rechtssystem beruht auf dem Grundprinzip der Thermodynamik«, sagt er langsam, setzt sich hin und verliert sich wieder einmal in der Betrachtung des Gemäldes an der Wand.
»Der Thermodynamik?«
»Alle offenen Systeme werden mit der Zeit schwächer, wenn ihnen nicht neue Energie von außen zugeführt wird. Unser Rechtssystem schwächelt schon viel zu lange.«
»Und unser Mann versucht jetzt, von außen Energie reinzupumpen«, überlegt Olli.
»Ist er auf Rache aus?«, fragt Tossavainen vorsichtig, als wolle er den Gedanken testen.
»Nicht unbedingt«, meint Kylmänen. »Vielleicht geht es um etwas
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