Erfrorene Rosen
lautete auf zwei Jahre Haft wegen schwerer Körperverletzung, obwohl die Tat kaltblütig geplant war und die Täter ein langes Vorstrafenregister hatten. Am Tag nach der Urteilsverkündung wurden achtundzwanzig Sachbeschädigungen angezeigt.«
Kylmänen nimmt ein noch dickeres Bündel vom Tisch und hält es hoch. »Fall drei. Ein Betrunkener überfährt absichtlich Leute, die an einer Wurstbude Schlange stehen. Als Grund für seine Tat gibt er an, die Leute hätten ihn ausgelacht. Es ist pures Glück, dass niemand ums Leben kommt. Das Amtsgericht verurteilt den Mann wegen fünffachen versuchten Totschlags und Verkehrsvergehen zu neun Jahren Gefängnis. Der Oberste Gerichtshof streicht die Strafe auf drei Jahre, obwohl der Mann bereits wegen Körperverletzung und Drogenbesitz vorbestraft war.«
Wieder nimmt Kylmänen mit vielsagendem Blick ein Bündel Strafanzeigen vom Tisch. »Fall Nummer vier. Ein junger Bursche braust in seinem frisierten Wagen mit weit überhöhter Geschwindigkeit durch die Stadt. Er verliert die Kontrolle und rast auf den Bürgersteig, wo er zwei Kinder und die Mutter des einen Mädchens überfährt. Mutter und Tochter sterben, das zweite Mädchen wird schwer verletzt. Zweifache fahrlässige Tötung und Herbeiführung einer Körperverletzung werden mit vier Monaten Bewährungsstrafe abgetan.«
Nichts von dem, was Kylmänen vorträgt, ist für Polizisten neu oder verwunderlich. Sie sind an die Praktiken der Richter gewöhnt, empfinden sie fast als selbstverständlich. Mit Ausnahme von Olli, der noch vor Kurzem ein sogenannter normaler Bürger mit hausbackenem Rechtsempfinden war. Einer, der zwischen Recht und Unrecht deutlich unterscheidet und zu wissen glaubt, wie diese oder jene Tat angemessen zu bestrafen ist.
»Eigentlich ein Wunder, dass nicht mehr Verbrechen begangen werden, wenn man von solchen Urteilen hört«, sagt er verbittert. »Eine Verbrecherkarriere ist ja geradezu verlockend. Ab und zu wird man zwar mal geschnappt, aber man kommt ja doch immer glimpflich davon.«
Tossavainen und Kylmänen sehen sich an. Mag sein, dass sie Olli insgeheim zustimmen, aber im Lauf der Jahre haben sie gelernt, nicht ganz so schwarz-weiß zu denken.
»Wie gesagt, von diesen Fällen gibt es mehr als genug«, fährt Kylmänen fort und wedelt mit einem weiteren Bündel von Anzeigen herum. »Eine leichte Vergewaltigung, weil es dem Täter so schnell kam, und dergleichen mehr. Na, und den letzten Fall kennt ihr ja.«
Olli und Tossavainen sehen sich an und stellen fest, dass sie beide keine Ahnung haben, wovon die Rede ist.
»Welchen Fall?«, fragt Tossavainen verwundert.
»Wisst ihr denn nichts davon?« Auch Kylmänen ist überrascht.
»Wovon?«, drängt Tossavainen. »Was zum Teufel sollen wir wissen?«
Kylmänen geht zu seinem Schreibtisch, holt die Zeitung und legt sie mit der Titelseite nach oben auf die gesammelten Strafanzeigen.
»Nun sag schon, worum es geht«, fordert Tossavainen.
»Euer Kindsmörder hätte wegen des Totschlags eigentlich noch hinter Gittern sitzen müssen«, erklärt Kylmänen.
»Hinter Gittern? Und was hat das mit dem Totschlag auf sich?«
»Der Kerl hat vor einem Jahr jemanden brutal getötet, war aber jetzt schon freigelassen worden. Und hat nun also den kleinen Jungen umgebracht.«
Tossavainen sieht Kylmänen geradezu wütend an. Er weiß haargenau, was dieser Killer sich zuletzt geleistet hat. Die Tat ist mit seiner Seele verwachsen, er wird sie nie vergessen können.
»Wieso ist er denn jetzt schon freigekommen?«, wundert sich Olli.
»Er hatte in Helsinki praktisch jemanden enthauptet, der Kopf hing bloß noch an der Wirbelsäule fest. Als Grund hat er angegeben, das Opfer hätte ihn angepflaumt. Er wurde für unzurechnungsfähig erklärt und kam in die psychiatrische Anstalt für Gefangene in Niuva, wo man ihn dann ein halbes Jahr später als gesund entlassen hat. Im Übrigen war das nicht sein erstes Delikt. Vor sieben Jahren zwei schwere Körperverletzungen mit Todesfolge, davor zwei tätliche Angriffe mit einer Stichwaffe.«
»Das kann doch nicht wahr sein«, stammelt Olli.
»Ist es aber«, stellt Kylmänen trocken fest. »Und da sehe ich die Verbindung zu unserem Fall. Man könnte nämlich denken, dass es nicht ganz richtig ist, wenn jemand, der einen anderen brutal umgebracht hat, ein halbes Jahr in der Klinik verbringt und dann freigelassen wird, sodass er erneut töten kann.«
»Na ja, auf diesen Gedanken könnte man eventuell kommen«, stimmt Olli
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