Erfüllen Sie meinen Herzenswunsch, Mylord!
Herrenhaus führte. Er hatte sie inständig gebeten, das Haus nicht zu verlassen und Fenster und Türen verschlossen zu halten. Und nun war seine Tochter ausgerissen und befand sich womöglich in größter Gefahr. Was, wenn das Mädchen bewaffneten Männern in die Hände fiel? Der Gedanke jagte Charlotte einen solchen Schrecken ein, dass ihr die Laterne entglitt und zu Boden fiel. Das Licht flackerte kurz, dann erlosch es. Eine höchst undamenhafte Verwünschung ausstoßend, raffte sie die Röcke und eilte so schnell sie konnte zum Herrenhaus, dessen beleuchtete Fenster ihr zum Glück den Weg wiesen.
Beim Eingang zum Wirtschaftstrakt angelangt, klopfte sie ungeduldig an die Tür. Die Köchin öffnete ihr und wirkte gehörig erschrocken, als sie ihre ehemalige Herrin vor sich stehen sah.
„Entschuldigen Sie, Mrs. Evans.“ Charlotte war völlig außer Atem. „Ist der Viscount im Haus? Ich muss dringend mit ihm sprechen.“
„Er ist nicht da, Madam. Er muss vor über einer Stunde fortgegangen sein. Hab gesehen, dass er den Weg zu den Klippen einschlug.“
„War er zu Pferd?“
„Nein, Madam, er ist zu Fuß gegangen.“
Also waren die Schmuggler bereits unten am Strand. Und Julia aller Wahrscheinlichkeit ebenfalls – es sei denn, Jenkins und Jem hatten sie inzwischen gefunden und sicher nach Hause gebracht. „Falls er demnächst eintrifft, richten Sie ihm bitte aus, er möge mich umgehend aufsuchen. Sagen Sie ihm, es ist sehr wichtig.“
„Selbstverständlich, Madam. Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?“
Doch Charlotte hörte die Worte der Köchin schon nicht mehr; wie von Sinnen rannte sie den Fahrweg entlang, der zur Küste führte. Sie gewahrte nicht einmal, dass hinter ihr ein Vierspänner näher kam und langsamer wurde, als er auf gleicher Höhe mit ihr war.
„Madam“, vernahm sie plötzlich eine Stimme aus der Dunkelheit, „wissen Sie, wie man zum Anwesen eines gewissen Captain MacArthur gelangt?“
Mit einem erschrockenen Aufschrei blieb Charlotte stehen und wirbelte zu der Kutsche herum. Aus dem Fenster lehnte ein älterer Gentleman und sah sie fragend an. War er einer der Schmuggler, oder gehörte er womöglich zum Zoll? Und weshalb wollte er zu ihr? „Aus welchem Grund möchten Sie das wissen?“, erkundigte sie sich vorsichtig.
„Das ist wohl meine Sache.“ Der Mann stieg aus und trat vor sie hin, um sie mit seinen dunklen Augen nachdenklich zu mustern.
„Nicht ganz“, widersprach sie, „denn ich wohne in dem Haus, das Sie suchen.“
„Dann musst du Charlotte sein.“ Der ältere Gentleman trat einen Schritt vor. „Elizabeths Tochter. Ich hätte es wissen müssen. Sie war immer ein Wildfang, und wie ich sehe, hast du ihr Temperament geerbt.“
„Was wissen Sie über meine Mutter, Sir?“
„Ich weiß, dass sie unsinnig gehandelt und sich nicht standesgemäß verheiratet hat. Ich habe sie damals gewarnt …“
„Oh, dann müssen Sie Lord Falconer sein.“
„Der bin ich in der Tat.“
„Was führt Sie her?“
„Der Wunsch, dich kennenzulernen. Ich erhielt einen Brief von einem Anwalt, einem gewissen Mr. Hardacre. Er schrieb, meine Hilfe sei dringend erforderlich.“
„Nicht jetzt, und auch sonst brauche ich keine Unterstützung von Ihnen. Bitte treten Sie zur Seite, Mylord. Ich bin in großer Eile. Ich muss Stacey finden.“
„Wer ist, wenn ich fragen darf, Stacey?“
„Viscount Darton. Seine Tochter ist meine Schülerin. Sie ist ausgerissen und hat wahrscheinlich das Pferd ihres Vaters mitgenommen. Wir müssen sie finden, bevor die Schmuggler an Land gehen.“
„Schmuggler?“ Lord Falconer packte ihre Schultern und schüttelte sie leicht. „Was, zum Teufel, gehr hier vor?“
Plötzlich hatte Charlotte eine Idee. „Wenn Sie mich mitnehmen würden, könnte ich Ihnen den Weg zeigen. Vielleicht ist Julia inzwischen von allein wieder nach Hause gekommen, und es könnte durchaus möglich sein, dass Stacey auch längst dort ist …“
„Du gebrauchst den Vornamen dieses Gentleman recht häufig“, bemerkte Lord Falconer, während er sie zu seinem Vierspänner eskortierte.
„Tue ich das?“, fragte sie erstaunt, denn ihr selbst war es nicht aufgefallen. „Er ist der Cousin zweiten Grades von Cecil Hobart, meinem Schwager, aber Stacey ist ganz anders als er.“ Sie ließ sich in die Chaise helfen und rief dem Kutscher zu, welche Richtung er einschlagen musste.
„Und nun erzähl mir, weshalb du dich all die Jahre nicht gemeldet hast“, forderte Lord
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