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Erich Kastner

Erich Kastner

Titel: Erich Kastner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gullivers Reisen
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den Hals abschneiden könne. Und sogar wenn man die Axt zustande brächte, wo lebe ein Henker, der groß und stark genug sei, sie hochzuheben und niedersausen zu lassen? Die Kaiserin hatte sich scheinbar gefügt. Sie hatte getan, als ob sie des Kaisers Gründe einsähe. Insgeheim aber gab sie ihre Rachegedanken nicht auf. Sie zettelte eine regelrechte Verschwörung an. Sie gewann Flimnapp, den Finanzminister, und den obersten Admiral für ihre Pläne. Und mit den zwei Herren, das wußte ich, war nicht gut Kirschen essen. Eines Nachts wisperte es neben meinem Kopfkissen. Es war mein Freund Reldresal, der Obersthofmeister. Er gebot mir zu schweigen, damit niemand meine Stimme höre. Sonst werde es ihm übel ergehen, denn er sei gekommen, um mich zu warnen. Dann setzte er sich auf mein Ohrläppchen und berichtete, was sich in der letzten Kabinettssitzung zugetragen habe. Mir standen die Haare zu Berge! Flimnapp, der Finanzminister, und der Admiral hatten der Regierung eine Anklageschrift vorgelegt, worin sie zwar dem Kaiser zustimmten, daß es unmöglich sei, den »Menschenberg« zu köpfen. Da er aber nicht nur das für die Palasthöfe geltende Gesetz übertreten, sondern auch dem Kaiser nicht gehorcht habe, als dieser ihm befahl, den Rest der feindlichen Flotte einzufangen, müsse man auf der Todesstrafe beharren. Und wenn eine Hinrichtung durch Beil nicht durchführbar sei, habe man die Pflicht, einen anderen Weg zu finden. »Wir schlagen eine Todesart vor, die keine Schwierigkeiten bereiten dürfte«, hatte Flimnapp geäußert. »Wir werden Gulliver vergiften. Wir besetzen zunächst sein Haus mit zwanzigtausend Soldaten und lähmen ihn durch Pfeilbeschuß. Dann bestreichen wir sein Bett, sein Hemd und ihn selber mit unserem Gift ›Forte‹. Alles andere wird er ohne unser Zutun besorgen. Er wird sich die Haut vom Leibe reißen, um seine Schmerzen zu mildern. Und da auch er, so groß er ist, ohne Haut nicht leben kann, wird er sterben. Er wird sich selbst hinrichten, ob er will oder nicht. Ich und meine Freunde beantragen, über den Vorschlag abzustimmen.«
    Der Kaiser hatte den Vorschlag abgelehnt. Er sei zwar nicht mein Freund, doch er bestehe auf einer Bestrafung, die Gulliver freiwillig annehmen werde. Damit hatte er die Sitzung unterbrochen.
    Nach der Mittagspause hatte der Erste Staatssekretär einen neuen Vorschlag gemacht. Man solle mich zunächst blenden und dann, um Liliputs Ernährungslage zu bessern, Schritt für Schritt verhungern lassen. Daraufhin hatte der Kaiser geantwortet: »Ich bin damit einverstanden, wenn auch der Angeklagte zustimmt. So will es das Recht, und so fordert es die Vernunft. Denn wenn er sich sträuben sollte, könnte er, blind am Verhungern, in seiner Raserei unser gesamtes Reich zertrampeln und verwüsten.« »Deswegen«, sagte Reldresal, »kommt morgen früh eine Delegation zu dir.« »Was will sie?« fragte ich. Er antwortete: »Deine Zustimmung.«
    »Ich soll zustimmen, daß man mir das Augenlicht raubt und mich verhungern läßt?« »Wenn du dich weigerst, werden die Anhänger der Kaiserin andere Mittel und Wege finden, dir den Garaus zu machen.«
    »Was rätst du mir?« fragte ich. »Du mußt fliehen«, erklärte er, »und zwar, bevor der Tag anbricht!« »Gut«, antwortete ich, »aber vorher werde ich das Kaiserreich Liliput in Grund und Boden trampeln!« Da fiel er auf meinem Ohrläppchen in die Knie und weinte. Seine kleinen Tränen tropften mir heiß ins Ohr, und er bat mich, sein Vaterland zu verschonen. Er flehte solange, bis mein Zorn geschmolzen war. »Meinetwegen!« sagte ich. »Aber nur dir zuliebe, Reldresal! Erzähle das dem undankbaren Kaiser!« »Niemals!« rief er aus. »Wenn er erführe, daß ich dich heute gewarnt habe, wäre es um mich geschehen!«
    Kaum daß es dämmerte, verließ ich Liliput, wo ich neun Monate und dreizehn Tage zugebracht hatte, und ging so arm, wie ich gekommen war. Nur die Bettdecke, die man mir genäht hatte, nahm ich mit. Und außerdem das größte Kriegsschiff der liliputanischen Marine. Ich verstaute die Bettdecke und die Schuhe und Strümpfe zwischen den Masten und watete ins Meer hinaus. Wohin? Zunächst nach Blefuscu.
HEIMKEHR UND ABSCHIED
    Als ich mich dieses Mal der Insel und dem Hafen näherte, hatte die Bevölkerung keine Angst vor mir. Sogar der Kaiser von Blefuscu kam an den Kai und begrüßte mich aufs freundlichste. Ich bat ihn, da ich auf der Flucht sei, für einige Zeit um Gastfreundschaft. Nachdem er gesagt hatte, er

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