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Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück

Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück

Titel: Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Röhrig
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an dir habe.«
    »Wehe, du sagst noch ein Wort mehr!« Kurz drohte ihm Erik mit der Faust, dann gab er Befehl, den Rahbaum hochzuziehen. Vorwärts! Das rote Segel blähte sich auf und trieb das Reittier weiter nach Westen.
    Das Gestern war jetzt schon dreimal von einem neuen Heute abgelöst worden. »Wann kommt endlich Grönland?« Leif stemmte die Fäuste in die Hüften.
    »Morgen. Aber warte, ich sehe genau nach.« Ihm zu Gefallen kniff Tyrkir das linke Auge zusammen und peilte über seine Daumenkuppe den Horizont an. »Stimmt. Vielleicht entdecken wir morgen Land.«
    »Onkel! Das hast du gestern auch schon gesagt.« Gründlich zog der Junge die Nase hoch und spuckte, wie er es den Männern abgeguckt hatte, mit dem Wind über die Reling. Hier vorn auf dem Bugdeck verbrachte er die meiste Zeit. Vom Ziehvater hatte er sich ins Geheimnis der Schattennadel einweihen lassen. Vieles war noch zu schwer für ihn, doch Tyrkir staunte über die wache Neugierde und schnelle Auffassungsgabe. »Hilf mir jetzt!«
    Sofort kniete sich Leif neben das Sonnenbrett. Der scharfe Schatten war im Strichkreis bis dicht zur Nordkerbe vorgerückt. Also musste …, er kraulte mit dem Finger in seinem nicht vorhandenen Bart, schließlich war er ganz sicher. »Beinah steht die Sonne im Süden. Bald haben wir Mittag.«
    »Sehr gut. Ab mit dir zu deiner Mutter! Wenn du gegessen hast, bring mir etwas Dörrfleisch mit. Aber beeile dich!« Zähnefletschend näherte sich Tyrkir dem geschnitzten Bugsteven. »Sonst muss ich mir ein Stück von unserm Drachen abbeißen.«
    »Ach, Onkel.« Leif winkte ab. »Das sagst du auch jedes Mal.«
    »Stimmt. Wird wirklich Zeit, dass mir etwas anderes einfällt.« Schmunzelnd sah der Lotse dem Jungen nach, wie er vom Halbdeck mit einem mühelosen Satz in den Frachtraum hinuntersprang.
    »Land!« Wer gerufen hatte, wusste niemand. Siedler und Mannschaft schreckten auf, Köpfe fuhren herum. »Land!« Einige Frauen griffen sich ans Herz, dann hoben sie ihre Kinder auf und drängten zum Bug. Schnell erlosch die aufgeflackerte Freude. »Land? Das soll unser Land sein?!«
    »Nein, lasst euch nicht täuschen! Wir befinden uns noch weit von der Küste entfernt.« Mit heftigen Armbewegungen wehrte Tyrkir ab. »Zurück! Geht an eure Arbeit!« Er zeigte auf die hochragenden, blau-weißen Felsgebilde. »Eisberge. Begreift ihr!? Sie treiben im Meer. Das sind die gefährlichen Wächter unseres Grönlands. Also habt noch Geduld!«
    Geduld? Zehn Tage und Tagnächte waren sie jetzt schon unterwegs; zusammengepfercht auf engstem Raum war der Gestank von Mensch und Vieh kaum noch zu ertragen, von Mahlzeit zu Mahlzeit wuchs der Ekel vor Pökelfleisch, aufgeweichtem Brot und Dörrfisch, längst gab es nur für die Kinder noch schmackhafte Sauermilch; zehn Tage in Angst und Gefahr hatten selbst die stärksten Gemüter ausgezehrt. Blicke wurden getauscht, aus dem Gemurmel hörte der Lotse immer wieder die bangen Fragen: Warum dauerte die Reise so lange? Hat uns der Sturm zu weit abgetrieben? Warum sonst gibt es hier Eisberge?
    »Leute, habt Vertrauen! Wir sind auf dem richtigen Kurs.« Sein Ton wurde streng. »Und jetzt geht!« Zwar gehorchten ihm die Siedler ohne Murren, doch er wusste genau, die Zweifel waren erwacht und kein Befehl konnte sie zerstreuen.
    Leif hatte schon vor zwei Tagen aufgegeben, nach dem Zeitpunkt ihrer Ankunft zu fragen. Mit gekrauster Nase starrte er jetzt zu den Eisbergen rechts und links des Knorrs hinüber, schließlich schüttelte er den Kopf: »Verstehe ich nicht. Die sind doch so weit weg und ganz still. Vor denen hab ich keine Angst.«
    Tyrkir stand aufgerichtet neben dem Drachenkopf, ehe er antwortete, gab er mit Handzeichen eine Kursänderung nach achtern an den Freund weiter.
    »Komm her zu mir! Was du dort drüben siehst, sind nur die Hüte der Riesen. Aber da unten im Wasser haben sie noch siebenmal so breite Schultern, die drehen sich und reiben sogar manchmal aneinander und wehe, ein Schiff gerät dazwischen. Außerdem ballen sie dicht unter der Oberfläche ihre Hände. Und glaub mir, jeder von ihnen besitzt nicht nur zwei Fäuste.«
    In diesem Augenblick brach vom Eisberg rechter Hand eine Wand mit gewaltigem Donnern ab und stürzte in sich zusammen.
    »Gefahr! Haltet euch fest! Gefahr!« Immer wieder schrie Tyrkir seine Warnung übers Schiff: »Legt euch! Gefahr! Haltet euch fest!« Schon hatte er den Jungen vom Steven weggerissen, auf die Planken gedrückt und sich über ihn geworfen.
    Die

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