Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück
Eiswand war ins Meer getaucht und nach dem brodelnden Sog stieg eine Flutwoge auf, rollte heran. Erik konnte das Reittier noch halb abdrehen, ehe es von der Wucht getroffen wurde. Die Spanten schrien, ächzten, Mast und Segel wankten. Einen Atemzug lang Todesangst! Dann richtete sich der Knorr wieder auf. Ohne den Jungen loszulassen, hob Tyrkir den Kopf. Sie waren dem Eisberg auf der anderen Seite bedrohlich nah gekommen. »Nach Steuerbord!« Sein Signal an Erik kam zu spät, längst hatte er den Kurs wieder geändert.
»Dem großen Tyr sei Dank«, keuchte der Deutsche.
»Ich hab mich nicht gefürchtet.« Leif zog die Nase hoch, vergaß aber zu spucken.
»Ist das wahr?«
Der Junge nickte. »Konnt ich ja auch nicht. Du hast ja auf mir gelegen und da konnte ich nichts sehen.«
Als gegen Mitternacht vor ihnen sich der Horizont in ein gewaltiges graues Gebirgsmassiv verwandelte, unterließ es Tyrkir, die Siedler mit dem Ruf »Land!« aus dem Schlaf zu reißen, auch verbot er den Segelwachen bei Strafe jedwelche Freudenschreie und winkte Erik zu sich vorn aufs Bugdeck.
»Da ist dein grünes Land. Ich denke, jetzt kommt der schwierigste Teil unserer Reise auf uns zu: Was willst du den Leuten sagen?«
»Kein Wort.«
»Aber du kannst es ihnen doch nicht länger verheimlichen.«
»Verdammt, Schlaukopf, weiß ich selbst. Wir sind noch nicht da, so lange müssen sie sich eben gedulden.« Der Rote fasste ihn hart an beiden Schultern. »Zeit, das ist es. Ab sofort geb ich den Leuten keine Gelegenheit mehr zum Nachdenken. Jedes kleinste Anzeichen von Aufruhr werde ich ersticken. Also erschrick nicht vor mir, schließlich bist du mein Freund.«
Noch vor Sonnenaufgang wusste es jede Siedlerfamilie an Bord: Land in Sicht. Schweigend starrten sie auf die weiße, endlose Mauer mit ihren unzählbaren, schneebedeckten Gipfeln. Auch als die Spitzen im Morgenlicht aufglühten, war kein Jubel zu hören.
Erik versammelte die Gutsherren und freien Bauern unter dem Mastbaum. »Eins sollt ihr wissen, wir sind der Ran und ihren Töchtern entkommen.«
Ohne jede Begeisterung blickten die Männer zum zerklüfteten, düsteren Küstenstreifen hinüber, je näher er kam, umso unwirtlicher zeigte er sich.
»Ja, diese Gegend gehört auch zu unserm Land, aber dort ist nicht mein Grönland. Das ist nur der Rücken, begreift ihr. Wir werden an ihm entlang nach Süden fahren und erst auf der anderen Seite seht ihr dann das schöne Gesicht. Dort gibt es die grünen Wiesen, die ich euch versprochen habe.«
Sein Werben fand kein Gehör bei den Enttäuschten. Jäh richtete sich Erik zur vollen Größe auf, im Bernstein seiner Augen stand kaltes Licht. »Bis dahin verlange ich Gehorsam. Keine Unruhe. Kein heimliches Gerede untereinander. Wenn einer von euch Fragen hat, dann geht er zum Lotsen oder kommt zu mir. Euer Wort darauf!« Einige hoben gleich ihre Hand, sie kannten das Gesetz an Bord, die Übrigen wurden erst durch den harten Blick des Schiffsführers wieder daran erinnert. »Und nun seid dankbar, dass ihr lebt.« Erik ließ sie stehen und kehrte schweren Schritts auf das Steuerdeck zurück.
Hatte er auch nicht zu den Frauen gesprochen, so war doch jedes seiner Worte bis zu ihnen gedrungen. Thjodhild riss Tyrkir am Arm. »Ihr wagt es«, fauchte sie unterdrückt. »Ihr habt mich schon einmal belogen. Aber jetzt …«
»Nein, bitte. Ich kann dir erklären … Nein, jetzt nicht, sprich erst mit Erik, bitte. Ich muss den neuen Kurs festlegen.« Überhastet stieg er aufs Bugdeck und beugte sich über das Sonnenbrett.
Die Fäuste in den Rockfalten versteckt forderte Thjodhild von Erik: »Ich muss mit dir reden. Allein!« Ihre Miene erlaubte keinen Widerspruch, sofort schickte er den Steuerknecht weg und übernahm selbst die Pinne. »Wohin bringst du mich?«
»In unsere neue Heimat?«
»Das Land da …« Sie atmete heftig. »Erik, ich sehe nur Steine, Felsen und Riffe und darüber nichts als Eis und Schnee. Diese Küste sieht noch menschenfeindlicher aus als der steile Strand, zu dem du mich nach unserer Heirat in den Norden gelockt hast. Mit falschen Versprechungen!«
»Diesmal ist es anders.«
»Erik Thorvaldsson, du hast wieder nicht die Wahrheit gesagt. Und nicht nur mir.« Voller Zorn wies sie zu den nachfolgenden Segeln. »Ja, dieses Mal ist es anders: Es ist noch viel schlimmer. All die Toten klagen dich an. Wie willst du vor den Siedlern bestehen?«
»Schweig!«
»Nein, Erik!« Sie schlug die Hand vor den Mund und presste
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