Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück
streckte er ihr die Hand hin. »Wünsch mir gute Fahrt!«
»Mach ich gern.« Sie grinste und küsste ihm die Finger. »Komm heil wieder, Brüderchen!«
Das Lebewohl von den Nachbarn war herzlich. Egil flüsterte noch: »Vergiss unsern Plan nicht.« Und Ingva nickte ihm zu, schüttelte den Kopf und außer einem tiefen Seufzer brachte sie keinen Ton heraus.
Von der Mutter hatte der Sohn noch im Haus innig Abschied genommen, jetzt umarmte er sie und ließ sich übers Haar streicheln. »Mein Junge. Ich bin stolz auf dich und werde glücklich sein, wenn ihr unversehrt zurückkehrt.«
Mit stillem Kummer sah sie Tyrkir an. »Mein Freund. Erst war es Erik, mit dem ich dich ziehen lassen musste. So oft, dass ich es nicht zählen kann. Jetzt begleitest du meinen Leif, gib auf ihn Acht!«
»Sorg dich nicht.« Er bemühte sich um Leichtigkeit. »Deinen Sohn werde ich schützen, so gut ich nur vermag. Und nicht allein seinetwegen wird unser Schiff den Weg zurückfinden.«
Erik ließ es sich nicht nehmen, mit an Bord zu gehen. Auf dem Achterdeck stellte er sich an die Ruderpinne. »Komm her zu mir, Sohn, und löse mich ab!«
Er nahm erst die Fäuste vom runden Holz, als Leif es umschlossen hatte. »Halte Kurs, Schiffsführer!«
»Danke, Vater.«
In den Augenwinkeln des alten Hünen glänzten Tränen. Kaum stand er wieder am Ufer, drohte er dem Freund: »Und wehe dir, wenn mein Knorr auch nur einen Kratzer hat.«
»Und wehe dir«, gab Tyrkir lachend zurück, »dein Damm hält immer noch nicht, wenn wir heimkommen.«
Die Ruderstangen fuhren durch die Pforten, pflügten das Wasser. Freydis rannte am Ufer ein Stück mit und schrie: »Brüderchen! Überlege es dir noch mal.«
Leif antwortete nicht.
»Was meint deine Schwester?«, fragte Tyrkir, während er vom Hecksteven den Zurückbleibenden winkte.
»Dieses Biest«, schimpfte Leif. »Jedes normale Mädchen hätte sich einen teuren Stoff oder eine Goldkette gewünscht. Aber meine Schwester. Sie will, dass ich ihr eine Streitaxt aus Norwegen mitbringe.«
Tyrkir ließ die Arme sinken. »Freydis hat ein sonderbares Gemüt, das ist wahr.«
»Du kennst doch ihre Mutter, Onkel. Meinst du, sie …?«
»Katla? Nein, diese Frau war ganz anders. Nur im Aussehen ähnelt die Tochter ihr.«
Hoch im Osten, über dem Rücken des Eisriesen, färbten sich die Wolkenstreifen und versprachen einen sonnigen Tag.
Leif steuerte die Mitte des Fjords an. »Von Katla wurde daheim nie gesprochen. Aber jetzt sind wir unter uns, Onkel. Erzähl mir was von Freydis’ Mutter.«
»Nicht jetzt. Ich muss an den Bug. Unsere lange Fahrt beginnt erst und wir haben Zeit genug. Ich werde dir über Katla berichten und, wenn du magst, auch von deinem Vater. Wie es uns erging, als wir in Island ankamen, wie er deine Mutter kennen lernte …«
Tyrkir brach ab und ging nach vorn zum Drachenkopf.
THORGUNNA
H atte der Nebel wirklich Schuld? Das Drehen des Windes? Tyrkir war sich mit einem Mal nicht mehr sicher, warum ihr Schiff statt in Norwegen hier im Hafen von Drimore auf den äußeren Hebriden vor Anker lag.
Bei der Ankunft vor zehn Tagen hatte er noch zu Leif gesagt: »Lass uns den Göttern dankbar sein, dass wir diesen Handelsplatz gefunden haben und nicht ins Nirgendwo abgetrieben sind.«
Bald nachdem sie das Südkap von Grönland umsegelt hatten, waren Wolken aufgezogen. Tyrkir gelang es noch einige Stunden, durch den doppelbrechenden Kristall die Herkunft des Sonnenlichtes im wabernden Grau auszumachen und so ungefähr den Kurs zu bestimmen. Jedoch in der Nacht gab es nicht einen glücklichen Augenblick, der ihm den Polarstern schenkte, und am Morgen blieb ihnen nur eine Richtung: »Halte dich vor dem Wind!«, rief er vom Bugsteven nach achtern hinüber. Kein Sturm, keine aufgewühlte See bedrängte das Reittier, wie von einer kräftigen Hand geschoben glitt es mit geblähtem Tuch über die Wogen. Hin und wieder fand Tyrkir sogar Muße, seinem Ziehsohn von Island zu erzählen.
Bei den blutigen Kämpfen schwieg Leif, doch als der Prozess auf dem Thorsnessthing zur Sprache kam, unterbrach er den Onkel oft, wollte den Hergang aufs Neue hören und sagte schließlich: »Wenn möglichst viele und dazu auch noch gekaufte Zeugen einer Partei das Urteil bestimmen können, so dient unser heiliges Gesetz nicht der Gerechtigkeit. Also ist es schlecht.«
»Nein, Junge, das wäre zu einfach. Unser Gesetz hilft, die Ordnung zu erhalten. Man sollte es verbessern.« Nachdenklich betrachtete ihn Tyrkir.
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