Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück
zerrte an den Kragen ihrer Seehundmäntel. Dann wurde ihm bewusst, keine Krankheit hatte das Schiff jäh befallen, nein, die Luft war wärmer geworden. Und beim nächsten Sonnenaufgang erstrahlte über Steuerbord weit in der Ferne eine Küste.
Während der Knorr darauf zuhielt, entledigten sich die Männer nach und nach der dicken Wetterkleidung. Gischt sprühte am Bugsteven hoch, nicht nur ihretwegen wischte sich Tyrkir immer wieder die Augen. Vor ihm malte sich die Gegend selbst. Eine Landzunge. Grüne Wiesen und Hügel. Und dann sah der Lotse, dass eine Insel der Küstenspitze vorgelagert war. Er schickte Egil zum Achterdeck mit der Bitte, zunächst dort vor Anker zu gehen. Leif übergab seinem Ruderknecht die Pinne und kam selbst nach vorn. »Wir haben unser Land gefunden, Onkel.«
»Dennoch meine ich, wir sollten uns ihm vorsichtig nähern. Wer weiß, ob wir nicht erwartet werden?«
Leif stimmte zu. »Falls wir uns in Sicherheit bringen müssen, benötigen wir einen Stützpunkt. Einverstanden, erst erkunden wir die Insel.«
Mit dem Beiboot gelangten sie auf den Strand. Im ersten Moment wagten sie kaum zu atmen. Beinah andächtig schritten sie durch hohes, unberührtes Gras, sahen Blumen und kannten ihre Namen nicht. Leif strich über die noch taunassen Halme. Er leckte seine Finger ab. »Onkel!« Wieder nahm er vom Tau. »Onkel!«
Tyrkir benetzte die Hand und führte sie zum Mund. Ein süßer Geschmack. Er kostete erneut. Kein Zweifel. »Ich weiß nicht, wie es sein kann, aber der Tau schmeckt nach Honig.«
Von der höchsten Erhebung aus stellten sie rasch fest: Die Insel war unberührt und so wagten sie, zwischen ihr und der Landspitze hindurchzusegeln. Eine weite Bucht lud ein: weiße, lang gestreckte Sandbänke; das Wasser wurde rasch flacher; in ihrem Staunen hatten weder Lotse noch Schiffsführer mit der einsetzenden Ebbe gerechnet, und bald schon steckte der Kiel des Falken im Grund fest.
Keine Vorsicht mehr! »So kurz vor dem Ziel warte ich nicht auf die Flut!« Leif gab Befehl, dass zehn bewaffnete Männer folgen sollten, und sprang mit Egil gleichzeitig von Bord. Er mochte auch nicht auf den Ziehvater warten, wollte losstürmen, indes seine Füße versanken im Schlick und so watete, hüpfte er vor Egil her zum grünen Strand hinüber.
»Willkommen auf meinem Land«, begrüßte Leif wenig später den Onkel, er lachte und breitete voller Stolz die Arme aus. »Hier werden wir …« Mit einem Mal griff er sich an die Kehle, als würge ihn eine unsichtbare Macht. Seine Augen wurden weit. »Onkel. Ich sehe … Da ist ein Kind …« Er torkelte, dann schlug er zu Boden.
In der Wohnhalle auf Steilhang bückte sich Thjodhild und half dem kleinen Jungen wieder auf die Füße. »Hast du dir wehgetan?«
Er sah sie aus verwunderten Augen an, obwohl sein Mund lächelte, rollten ihm Tränen über die Wangen. »Ich … bin … Thorgils«, sagte er deutlich, dabei schnappte er zwischen jedem Wort nach Luft.
»Schon gut, Kleiner. Das weiß ich jetzt.« Sie führte ihn zum Tisch. »Möchtest du Milch?« Zweimal musste er zugreifen, dann hielt er den Becher mit beiden Händen fest.
Wie lange, dünne Finger er hat, dachte Thjodhild und ließ sich auf einen Hocker fallen. »O Heilige Jungfrau Maria!« Beide Beine streckte sie weit von sich, schlug die Fersen in den gestampften Torfboden. »Womit hab ich das verdient?« Genügte es nicht, dass Erik ausfiel und die Verantwortung für Leute und Hof allein auf ihren Schultern lastete? Sie lächelte bekümmert vor sich hin. »Erst muss ich durchatmen, ehe ich bereit bin, wieder einen klaren Gedanken zu fassen.«
Dabei war am Morgen endlich der Nebel verschwunden gewesen und das Wetter versprach wieder gut zu werden. Gegen Mittag hatte sogar das längst erwartete Frachtschiff unten im Hafen Anker geworfen; es brachte Getreide und Waren aus der Handelsniederlassung, die letzte Sendung vor dem Winter. Welch eine Freude! Das Ausladen hatte Thorvald überwacht; der zweitälteste Sohn half ihr bei der Führung des Hofes und sie konnte sich auf ihn verlassen. Der Schiffsführer war heraufgekommen, um die Bezahlung zu regeln. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Tag nur Gutes gebracht.
Dann aber: Kaum war sie mit dem wortkargen, nach Schweiß und Tran riechenden Mann handelseinig, brummte er: »Da ist noch eine Fracht für deine Familie«, und pfiff zum Ausgang hinüber. »Bezahlt ist sie schon.«
Sein Sklave kam herein mit Felldecken auf dem Arm. Zunächst glaubte
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