Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück
Thjodhild an ein Geschenk des alten Herjulf. Doch der Knecht legte das Bündel nicht ab, sondern stellte es behutsam vor sie hin und begann von oben den Pelz abzustreifen. Ein rundes, wächsernes Gesicht, blaue Augäpfel mit weißem Rand, und der lächelnde Mund verkündete bedächtig: »Ich … bin … Thorgils.«
Wenig später stand das Kind vor ihr. Über dem langen dünnen Körperchen schwankte ein viel zu großer Kopf.
Erst nach einer Weile fand sie die Sprache wieder: »Wer ist das?«
»Den Jungen hab ich unten in der Niederlassung übernommen. Herjulf sagt, er kam mit einem Fernsegler von den Hebriden rüber.« Ihre Miene zwang den Schiffsführer, die für ihn schon überlange Rede noch auszudehnen. »Bis nach Grönland hat ihn eine Magd betreut. Muss wohl der Sohn von deinem Leif sein. Zumindest hat die Mutter ihn geschickt. Für Fahrt und Sorge hat sie im Voraus gut bezahlt. Gut drei Winter ist er alt. Tja, mehr weiß ich auch nicht.« Sichtlich angestrengt hatte der Schiffsführer zum Abschied genickt und war gegangen.
Thjodhild rieb sich die Stirn. Ganz gleich, in welches Abenteuer sich Leif auch auf den Hebriden verstrickt hat, dachte sie, er hätte mich einweihen sollen, zumindest hätte Tyrkir mich vorwarnen können. Aber wartet nur, wenn ihr zurück seid, dann werde ich … Sie hielt inne. Thorgils stand reglos vor ihr, der Kopf war ihm auf die Brust gesunken, und immer noch hielt er den Milchbecher in seinen Händen.
»Na, komm zu mir.« Thjodhild half ihm. Nachdem er getrunken hatte, ließ er sich ohne Scheu auf den Schoß heben. Gleich lehnte er den Kopf an ihre Brust. »Vater … ist … Leif«, sagte er deutlich und atmete zwischen jedem Wort.
»Ich hab’s gehört. Auch wenn ich es nicht glauben will.« Beim Gedanken an die Mutter stieg Zorn in ihr auf. Als Nachweis der Herkunft hatte sie ihrem Sohn zwei Sätze beigebracht und ihn dann wie Frachtgut dem Vater geschickt. Einfach so! Ein Kleinkind! Hätte sie nicht wenigstens warten können, bis es herangewachsen war? Oder wollte sie …? Thjodhild dachte erschreckt an das sonderbare Aussehen des Jungen. Missgestaltete Kinder wurden den wilden Tieren überlassen. Erwartete die Mutter das von dem Vater? »Ach, Leif, du Stern meines Herzens, welch herzloser Frau bist du nur in die Fänge geraten.«
Thorgils war eingeschlafen. Sein Mund hatte das Lächeln nicht verloren. »Du bist nun mal da«, flüsterte Thjodhild und strich ihm über die dunklen Krauslocken. »Also sorge ich für dich. Bei uns wirst du nicht verhungern.«
Entschlossen trug sie den Jungen in Leifs Schlafstube und murmelte, während sie ihn zudeckte: »Wenn dein Vater zurückkommt, soll er über dich entscheiden. Vorher aber wird er mich fragen müssen. Das verspreche ich dir.« An der Tür überfiel sie die jähe Erkenntnis und sie wäre beinahe gestolpert. »Ich bin Großmutter. Auch das noch.«
Jedes Auflehnen gegen die Vorsehung …, gleich verbesserte sich Thjodhild, gegen den Willen Gottes kostete nur unnötig Kraft. Nach vorn schauen, nur so konnte das Glück irgendwann vielleicht wieder eingeholt werden. Sie wählte zwei ältere, erfahrene Mägde. »Nachwuchs ist angekommen. Ihr beide werdet das Kind umsorgen.«
Nein, keine Fragen! Der Sack mit den Kinderkleidern musste aus dem Lagerschuppen herbeigeschafft werden sowie Badezuber, weiche Trocken- und Wickeltücher. »Und sucht nach der Spielzeugkiste!«
Die dringlichsten Aufgaben waren verteilt. Sie steckte eine Strähne zurück unter die Kopfhaube und sah einen Moment unschlüssig zum Ausgang der Halle. Noch nicht, entschied sie, erst die Pflichten, den Priester suche ich morgen auf.
Thjodhild öffnete die Tür zur Krankenstube. »Bist du wach?«
Ein rasselndes Stöhnen drang vom Lager her. Sie entzündete eine zweite Öllampe und prüfte zunächst die Wärme des Bettsteins unter der Decke, ehe sie ihrem Mann etwas Fett auf seine rissigen Lippen strich. »Du wirst wieder gesund. Nur musst du Geduld haben.«
Erik nahm die Nachricht vom neuen Mitglied seiner Familie teilnahmslos hin. Seit dem Unfall war er halb sitzend ans Bett gefesselt. Der rechte Arm war dick geschwollen und blau bis zu den Fingern und ließ sich nicht mehr bewegen. Jeder tiefe Atemzug fuhr wie ein Messerstich in Schulter und Rücken und Schweiß rann ihm übers Gesicht, sobald er auch nur versuchte, den Körper in eine andere Lage zu bringen. »Zeig mir den Jungen später!« Er hüstelte und schloss vor Schmerzen die Augen.
Beim Abendessen
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