Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
beliebig viele Antworten, die sie bekommen könnte. Aber keine, die ihr Klarheit verschaffen würde.
54
Zuerst traute Hanna ihren Augen nicht. Aber Esmeralda begann tatsächlich abzunehmen.
Jedes Mal, wenn Hanna sie ansah, hatte sie sich verändert. Herr Eber unterbreitete Hanna auch eine ständig wachsende Anzahl von Schneiderrechnungen für die Arbeit, Esmeraldas Kleider enger zu machen. Hanna dachte immer noch mit Unbehagen an den weißen Wurm in dem Glasbehälter. Aber ganz offensichtlich begann er jetzt von den Nährstoffen in Esmeraldas Bauch zu wachsen, die früher immer größere Fettpolster um ihren Körper gebildet hatten.
Hanna hatte die übrigen Glasbehälter in den Schrank gestellt, in dem Senhor Vaz’ Anzüge und Hemden hingen. Trotz des Unbehagens, das sie empfand, holte sie manchmal abends ein Glas hervor, um im Licht der Petroleumlampe den weißen Wurm zu studieren. Wie dieser kleine Schmarotzer sich so entwickeln konnte, dass er in Magen und Gedärm eines Menschen bis zu fünf Meter lang wurde, war ihr unverständlich. Sie stellte das Glas mit einem Schaudern zurück.
Carlos saß oben auf dem hohen Schrank und betrachtete sie.
»Und? Was siehst du?«
Carlos antwortete nicht mit seinem üblichen Geschnatter. Er gähnte nur und kratzte sich zerstreut am Bauch.
Zwei Tage später verschwand Esmeralda. Spätabends hatte Felicia gesehen, wie sie in ihr Zimmer gegangen war, um zu schlafen. Keiner von den Wächtern hatte bemerkt, dass sie das Haus verließ. Auf Hannas direkte Frage, ob es Grund zur Sorge gebe, hatte Felicia den Kopf geschüttelt. Hanna meinte ein vorsichtiges Zögern zu bemerken, aber sie konnte nicht sicher sein.
Doch bald wusste man, dass sie ihre Familie nicht besucht hatte. Das ließ die Unruhe wachsen.
An diesem Tag blieb Hanna entgegen ihrer Gewohnheit im Bordell und setzte sich selbst auf eins der roten Sofas. Ein paar russische Seeleute waren die einzigen Kunden. Spätnachmittags wurde ein Zug aus Johannesburg erwartet. Es sollten Engländer und Buren kommen, die die Reise eigens machten, um Hannas schwarze Frauen zu besuchen.
Kurz nach drei Uhr nachmittags hörte man aufgeregte Stimmen auf der Straße. Hanna war in ihrer Sofaecke eingeschlummert. Ein Mann sprach mit einem der Wächter in einer Sprache, die Hanna nicht kannte. Felicia kam aus ihrem Zimmer, eingehüllt in einen dünnen Morgenmantel, und mischte sich ins Gespräch ein.
Plötzlich wurde es ganz still. Felicia kam von der Straße herein und erzählte zitternd, Esmeralda sei tot. Ihr Körper treibe im Hafenbecken. Die bombeiros waren gerufen worden, um die tote Frau zu bergen. Zusammen mit einem der Wächter und Felicia, immer noch in ihrem rosa Morgenmantel, ging Hanna zum Hafen. Aus der Ferne bemerkte sie einen kleinen Menschenauflauf weit draußen am Kai. Als sie hinkamen, wurde der Körper gerade aus dem Wasser gezogen. Esmeralda war nackt. Obwohl sie sehr abgenommen hatte, war sie immer noch formlos und sehr fett. Hanna empfand es als schändlichen Übergriff, zu sehen, wie der unbekleidete Körper aus dem Wasser gehievt wurde.
Ich habe gesehen, wie Lundmark im Meer versenkt wurde, dachte Hanna. Aber Esmeralda versinkt nicht, sie wird unter die Augen der Leute gezerrt.
Der Gouverneur hatte angeordnet, alle Toten in der Stadt, bei denen der Verdacht bestand, sie könnten Übergriffen ausgesetzt worden sein, obduzieren zu lassen. Felicia und Hanna begleiteten die Feuerwehrleute zur Leichenhalle, die an der Rückseite des Krankenhausgebäudes lag. Als die Türen geöffnet wurden, war der Gestank gewaltig. Der Arzt, der die Obduktion durchführen sollte, stand auf dem Hof und rauchte. Hanna sah auf seine schmutzigen Hände und den zerfransten Hemdkragen. Er stellte sich als Doktor Meandros vor und sprach gebrochen Portugiesisch. Doktor Meandros kam ursprünglich aus Griechenland. Niemand wusste genau, wie er in der Stadt gelandet war, aber jemand behauptete, er sei mit einem Schiff an der Küste vor Durban gestrandet. Er war ein geschickter Pathologe, und es kam selten vor, dass er die Todesursache nicht feststellen und damit entscheiden konnte, ob es ein selbstverschuldeter Tod war oder Mord.
Doktor Meandros krempelte die Hemdsärmel hoch, drückte die Zigarette unter seinem Schuh aus und verschwand in dem stinkenden Gebäude. Hanna und Felicia kehrten in einer Rikscha, die von einem Mann mit riesigen Ohren gezogen wurde, zum Bordell zurück.
»Warum war sie nackt?«, fragte Hanna.
»Ich glaube,
Weitere Kostenlose Bücher