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Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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glaube, das ist auch hier nicht nötig.«
    »Erzählen Sie mir von dem Kommandanten. Offiziere sind oft argwöhnisch veranlagt. Wird er einen falschen Arzt nicht durchschauen?«
    »Ich weiß es nicht. Er hat sich als Lemuel Gulliver Sullivan vorgestellt. Da er fließend Portugiesisch spricht, ist er vermutlich nur dem Namen nach Engländer.«
    Pandre brach in Gelächter aus, während er einen blanken Serviettenring zwischen den Fingern drehte. »Heißt er wirklich so? Lemuel Gulliver Sullivan?«
    »Ich habe seinen Namen aufgeschrieben, als ich nach Hause kam.«
    »War er von Pferden umgeben?«
    »Der Pferdestall der Soldaten liegt am Rand der Stadt. In der Festung gibt es nur ein paar Ziegen.«
    »Ich meine seine Soldaten. Sahen sie aus, als wären sie Pferde?«
    Ana verstand die Frage nicht. Sie war sofort auf der Hut. »Warum sollte er sich mit Pferden umgeben?«
    »Ja, warum sollte er? Vielleicht war er stattdessen von außerordentlich kleinen Menschen umgeben? Die in diesem Serviettenring stehen könnten wie in einem Weinfass? Oder sind seine Soldaten Riesen?«
    Er sah ihr an, dass sie nicht verstand, was er meinte.
    »Lemuel Gulliver ist eine literarische Figur«, sagte er freundlich. »Ich habe noch nie von jemandem gehört, der frech oder eingebildet genug wäre, seinen Sohn nach dieser bemerkenswerten Romangestalt zu taufen. Ich nehme an, dass das Werk über diesen Mann Ihnen unbekannt ist?«
    »Ich betreibe ein Bordell«, sagte Ana. »Ich versuche, einer eingesperrten Frau zu helfen. Ich lese keine Bücher.«
    »Das klingt plausibel«, sagte Pandre. »Vermutlich liest auch dieser junge Kommandant nicht besonders viele Bücher. Wenn überhaupt. Aber sein Vater hat jedenfalls Gullivers Reisen gelesen.«
    Sie aßen schweigend. Hin und wieder stellte Pandre eine Frage, vor allem als höflichen Beweis dafür, dass er nicht gänzlich in seine Gedanken versunken war. Er fragte nach Klima und Regenzeiten, Tierarten und Fieberkrankheiten. Sie antwortete, so gut sie konnte, und fragte, ob er schon an diesem ersten Abend beabsichtige, ihr Bordell zu besuchen und das Angebot zu nutzen, das sie ihm zugesichert hatte.
    Das entsprach jedoch nicht seinem Plan. Nach der Mahlzeit stand er auf, verbeugte sich und bat darum, am folgenden Morgen um zehn Uhr abgeholt zu werden. Dann verbeugte er sich abermals und verließ den Speisesaal. Ana bezahlte die Rechnung und fuhr nach Hause.
    Carlos hatte das Dach verlassen, mehr als satt von all den Heuschrecken, die er seit dem Vortag verzehrt hatte. Er lag auf ihrem Bett und rülpste zufrieden. Ana setzte sich an ihren Tisch, schlug das Tagebuch auf und sann über den Eindruck nach, den sie von Pandre bekommen hatte, jetzt, da er sich in ihrer Stadt befand. Dann schrieb sie alles auf, was nach seiner Ankunft geschehen war.
    Sie hoffte, eines Tages Isabel alles vorlesen zu können. Die Erzählung von der langen Reise, um ihr die Freiheit wiederzugeben.
    Sie wusste jetzt, dass sie eines Tages das Tagebuch beenden würde.
    Sie würde das Datum und den Zeitpunkt notieren, an dem Isabel frei werden würde.
    Und sie würde die Antwort auf eine Frage aufschreiben, über die sie am häufigsten nachdachte: War alles, was nach Lundmarks Tod geschehen war, eine vorübergehende Episode in ihrem Leben?
    Das Letzte, was sie schrieb, würde von Isabels und ihrer eigenen Freiheit handeln.
    Sie schloss das Tagebuch, löschte die Petroleumlampe und blieb im Dunkeln sitzen. Sie dachte: Isabel in ihrem furchtbaren Kerker. Und ich in einer anderen Art von Gefängnis eingesperrt.

63
     
    Der Tag danach: intensive Wärme.
    Schweißperlen glänzten auf Pandres Stirn, als er aus dem Hotel trat und in den Wagen stieg. Er hatte eine Ledermappe bei sich und Ana dachte, sie könnte durchaus ein Stethoskop und andere Instrumente enthalten, die ein Arzt brauchte.
    Lemuel Gulliver Sullivan erwartete sie auf der Treppe, auf die gleiche Art, wie es sein fieberkranker Vorgänger stets getan hatte. Auf Ana wirkte er wie ein kleiner Junge in einer viel zu großen Uniform und allzu blanken Stiefeln.
    Sie stellte Pandre vor. »Hier ist der Arzt, über den ich mit Ihrem Vorgänger gesprochen habe. Ich nehme an, er hat erwähnt, dass er unterwegs war?«
    Der Kommandant nickte. Aber er betrachtete Pandre mit unverhohlenem Abscheu. »Ich denke, ich komme mit«, sagte er plötzlich, »und höre mir das Gespräch des Arztes mit seiner gefangenen Patientin an.«
    »Das Gespräch wird in der Sprache der Patientin geführt

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