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Erinnerung an meine traurigen Huren

Erinnerung an meine traurigen Huren

Titel: Erinnerung an meine traurigen Huren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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erst an meinem neunzigsten Geburtstag fand, als ich Rosa Cabarcas' Haus mit dem festen Entschluss verließ, nie wieder das Schicksal herauszufordern. Ich fühlte mich wie ein anderer Mensch. Meine Laune verschlechterte sich, als ich Soldaten an den Eisengittern postiert sah, die den Park umgeben. Zuhause traf ich Damiana an, die kriechend den Boden im Wohnzimmer wischte, und ihre trotz des Alters jugendlichen Schenkel lösten in mir ein Beben aus anderen Zeiten aus. Sie musste das gespürt haben, denn sie zog den Rock über die Beine. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und fragte: Sagen Sie, Damiana, an was erinnern Sie sich? Bisher habe ich mich an nichts erinnert, aber wenn Sie so fragen. Ich spürte einen Druck auf der Brust. Ich habe mich nie verliebt, sagte ich. Sie entgegnete sofort: Ich schon. Und sagte abschließend, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen: Ich habe zweiundzwanzig Jahre lang um Sie geweint. Mein Herz tat einen Sprung. Nach einem würdevollen Abgang suchend sagte ich zu ihr: Wir beiden wären ein gutes Gespann gewesen. Das hätten Sie nicht sagen sollen, sagte sie, denn jetzt nützt es mir nichts mehr, nicht einmal als Trost. Als sie das Haus verließ, sagte sie ganz unbefangen: Sie werden es nicht glauben, aber ich bin immer noch Jungfrau, Gott sei Dank.
    Kurz danach entdeckte ich, dass sie im ganzen Haus Vasen mit roten Rosen aufgestellt und auf dem Kopfkissen eine Karte hinterlassen hatte: Ich wünsche ihnen, das sie hunderd werden. Mit einem unangenehmen Nachgeschmack setzte ich mich hin, um weiter an der Glosse zu arbeiten, die ich am Tag zuvor halbfertig liegen gelassen hatte. In einem Zug, in knapp zwei Stunden schrieb ich sie mir von der Seele, musste aber dem Singschwan den Hals umdrehen, damit meine Tränen dem Text nicht anzumerken wären. Eine ebenso plötzliche wie späte Eingebung führte zu dem Entschluss, die Glosse mit der Mitteilung zu beenden, hiermit brächte ich ein langes, aufrechtes Leben zu einem guten Abschluss, ohne deshalb gleich sterben zu müssen.
    Meine Absicht war, den Text beim Portier abzugeben und heimzugehen. Doch das gelang mir nicht. Die gesamte Belegschaft erwartete mich, um meinen Geburtstag zu feiern. Das Gebäude war eine Baustelle, Gerüste und Schutt allenthalben, die Arbeiten waren aber wegen des Festes eingestellt worden. Auf einer aufgebockten Schreinerplatte befanden sich die Getränke zum Anstoßen und in buntes Papier gewickelte Angebinde. Verstört von den Blitzen der Kameras ließ ich mich mit allen anderen zusammen für die Erinnerungsfotos ablichten.
    Ich war erfreut, dort Journalisten vom Radio und von anderen Zeitungen der Stadt zu sehen: von La Prensa, der konservativen Morgenzeitung, von El Heraldo, dem liberalen Morgenblatt, und El Nacional, dem abends erscheinenden Revolverblatt, das versuchte, die Spannungen im öffentlichen Leben mit melodramatischen Fortsetzungsgeschichten zu lindern. Es war keine Seltenheit, die Kollegen beieinander zu sehen, denn es gehörte zum guten Ton in der Stadt, in der Truppe die Freundschaften zu pflegen, während die Mar-schälle die Verlagsschlacht schlugen.
    Auch der staatliche Zensor, Don Jeronimo Ortega, war anwesend, obwohl er noch keinen Dienst hatte; wir nannten ihn den Widerwärtigen Mann der neunten Stunde, da er stets pünktlich zu dieser Zeit mit dem blutigen Stift eines Tyrannen erschien. Er blieb so lange, bis er sich dessen vergewissert hatte, dass kein strafbarer Buchstabe in die Morgenausgabe gelangte. Er hatte eine persönliche Abneigung gegen mich, weil ich mich als Grammatiker aufspielte und italienische Wörter ohne Anführungszeichen oder Kursivschrift immer dann einsetzte, wenn sie mir ausdrucksstärker als die spanischen erschienen, was unter Zwillingssprachen erlaubt sein sollte. Nachdem wir den Zensor vier Jahre lang ertragen hatten, akzeptierten wir ihn schließlich als unser eigenes schlechtes Gewissen.
    Die Sekretärinnen brachten einen Kuchen mit neunzig brennenden Kerzen in den Saal, was mich zum ersten Mal mit der Zahl meiner Jahre konfrontierte. Ich musste die Tränen herunterschlucken, als sie den Toast ausbrachten, und dachte unvermittelt an das Mädchen. Es war kein Anfall von Groll, vielmehr von verspätetem Mitgefühl für ein Geschöpf, bei dem ich nicht erwartet hatte, dass es mir je wieder in den Sinn käme. Ein Engel ging durch den Raum, und ich hatte ein Messer in der Hand, mit dem ich den Kuchen anschneiden sollte. Aus Angst vor spöttischen Kommentaren wagte

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