Erinnerung Des Herzens
Licht. Beim Umdrehen riss sie eine rosa Geranienblüte vom Stengel. Die samtigen Blütenblätter fielen auf den Boden und wurden von ihr achtlos zertreten. »Diese ganze Sache war nichts weiter als eines ihrer berühmten Manöver. Dass sie mich hergeholt hat, ins Vertrauen gezogen hat, dafür gesorgt hat, dass ich ihr vertraute, mich um sie kümmerte. Und sie war sicher, so verdammt sicher, dass ich direkt in die Falle tapsen würde. Glaubst du, dass sie der Meinung war, ich würde dankbar sein, geschmeichelt, dass ich auf diese Weise mit ihr verbunden bin?«
Er beobachtete sie genau. »Ich kann wirklich nicht sagen, was sie angenommen hat, wenn du mir nicht reinen Wein einschenkst.«
Sie warf den Kopf zurück. Einen Augenblick lang hatte sie vollkommen vergessen, dass er da war. Aber da stand er, bequem gegen den Tisch gelehnt und beobachtete sie. Beobachter. Das waren sie beide, dachte sie bitter. Sie standen da, beobachteten, nahmen auf Band auf, machten sich Notizen, hielten sorgfältig fest, wie andere lebten, was sie empfanden, was sie sagten, wenn das Schicksal sie durchrüttelte. Aber diesmal war sie diejenige, die manipuliert wurde.
»Du hast es gewußt.« Wieder wurde sie von Wut erfüllt. »Du hast es die ganze Zeit gewußt. Sie verbirgt nichts vor dir. Und du hast abgewartet, beobachtet, obwohl du wusstest, dass sie mir das antun würde. Was für eine Rolle hat sie dir gegeben, Paul? Die des Helden, der ruhig die Scherben aufsammelt?«
Viel Geduld hatte er nicht mehr. Er stieß sich vom Tisch ab und schaute sie voll an. »Ich kann das weder zugeben noch leugnen, bevor du mir erzählst, was ich gewußt haben soll.«
»Dass sie meine Mutter ist.« Julia schleuderte ihm die Worte entgegen, und jede einzelne Silbe hinterließ einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge. »Dass Eve Benedict meine Mutter ist.«
Es war ihm gar nicht klar, dass er sich bewegt hatte, als seine Hände Vorschüssen und ihre Arme packten. »Zum Teufel, wovon redest du eigentlich?«
»Sie hat es mir heute abend erzählt.« Sie wich nicht zurück, sondern griff nach seinem Hemd und lehnte sich an ihn. »Sie muss der Meinung gewesen sein, es wäre an der Zeit für ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter. Es ist ja erst achtundzwanzig Jahre her.«
Er schüttelte sie kurz und hart. In ihrer Stimme schwang Hysterie mit, da war ihm die Wut lieber. »Was hat sie dir erzählt? Was genau?«
Sie hob langsam den Kopf. Obwohl sie sein Hemd nicht losließ, sprach sie so ruhig und deutlich, als müßte sie einem zurückgebliebenen Kind ein besonders schwieriges Problem erklären. »Dass sie vor achtundzwanzig Jahren heimlich ein Kind zur Welt gebracht hat. In der Schweiz. Und da sie keinen Platz hatte für dieses unbequeme Ding, gab sie es weg. Sie hat mich weggegeben.«
Er hätte diese Vorstellung mit einem Lachen abgetan, aber da war diese Verzweiflung in ihren Augen. Ihre Augen - es lag weniger an der Farbe als an der Form. Sehr langsam griff er ihr ins Haar. Ihre Lippen zitterten. Und der Mund ...
»Oh, Himmel.« Er hielt sie fest und starrte ihr ins Gesicht, als hätte er es noch nie zuvor gesehen. Vielleicht hatte er das wirklich nicht getan. Wie sonst hätte ihm die Ähnlichkeit entgehen können? Oh, sie war nur schwach ausgeprägt, aber sie war deutlich zu sehen. Wie konnte er beide Frauen geliebt haben, ohne es zu sehen, ohne es zu wissen? »Sie hat dir das selber erzählt?«
»Ja, obwohl ich mich frage, ob sie es nicht vorher Nina für den Terminkalender diktiert hat. >Julia beim Dinner das Geheimnis ihrer Geburt erklären. Acht Uhr.«< Sie riß sich los und drehte ihm den Rücken zu. »Oh, ich hasse sie. Ich hasse sie, weil sie mir soviel genommen hat.« Sie wirbelte herum. »Mein Leben, jeder Augenblick meines Lebens, alles ist durch einen einzigen Moment verändert. Wie kann etwas jemals wieder so sein wie zuvor?«
Darauf gab es keine Antwort. In seinem Kopf drehte sich alles, er kämpfte darum, die Tatsache, die sie ihm entgegengeschleudert hatte, einzuordnen. Die Frau, die er in seinem Leben bisher am meisten geliebt hatte, war die Mutter der Frau, die er für den Rest seines Lebens lieben wollte. »Du musst mir eine Minute Zeit lassen, um das zu verdauen. Ich denke, ich weiß, wie dir zumute sein muss, aber ...«
»Nein.« Das Wort kam wie ein Peitschenknall. Eine Hitzewelle überflutete sie. »Du kannst das doch nicht einmal annähernd nachempfinden. Als Kind habe ich mir manchmal Fragen gestellt. Das ist nur
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