Erinnerung Des Herzens
fühlen.
Nein, nicht Tod umgab sie hier. Nur die Erinnerungen an Leben.
Als Paul kam, sagte er nichts. In den letzten Tagen hatte er gesehen, wie sie immer zarter wurde. Der Kummer zehrte an ihrer Lebenskraft. Er goß sich und ihr einen Brandy ein. Als er anfing zu sprechen, klang seine Stimme absichtlich kühl und unbeteiligt.
»Du musst dich bald wieder fangen, Jules. Du tust weder dir noch Brandon einen Gefallen, wenn du weiterhin wie in Trance herumgehst.«
»Mir geht es gut.« Sie nahm das Glas und ließ es von einer Hand in die andere wandern. »Ich möchte nur, dass es vorbei ist. Aus und vorbei. Wenn die Presse von dem Testament Wind bekommt ...«
»Wir werden das durchstehen.«
»Ich will ihr Geld nicht, Paul, auch nicht ihre Grundstücke oder ...«
»Ihre Liebe«, sagte er. Er setzte sein Glas ab und nahm den Umschlag in die Hand. »Eve musste immer das letzte Wort haben. Damit musst du dich abfinden.«
Sie spielte weiterhin mit ihrem Glas. »Erwartest du von mir, dass ich mich ihr verpflichtet, eng verbunden fühle, ihr Dankbarkeit zu schulden glaube, wo ich seit gerade einer Woche weiß, dass sie meine Mutter ist? Sie hat mein Leben manipuliert, bevor ich noch geboren worden war, und selbst jetzt, wo sie tot ist, manipuliert sie mich immer noch.«
Er öffnete den Umschlag und nahm das Band heraus. »Ich erwarte nicht von dir, dass du irgendetwas fühlst. Und wenn du in den letzten Monaten irgendetwas von ihr begriffen hast, dann weißt du, dass sie es auch nicht erwarten würde.« Er drehte ihr den Rücken zu, als er das Band einlegte und das Videogerät einschaltete. Er wehrte sich dagegen, dass der Zorn ihn übermannte.
Zum Teufel mit ihm, dachte sie. Warum zwang er sie, sich so zu schämen? Sie setzte sich auf das mit Kissen bedeckte Schlafsofa und nippte an ihrem Brandy. Er prostete ihr zu, aber als auch er sich hinsetzte, ließ er einen beträchtlichen Abstand zwischen ihnen.
Ein kurzes Schnippen, und schon füllte Eve den Bildschirm aus, wie sie es in ihrem Leben schon so oft getan hatte. Julias Herz krampfte sich vor Kummer zusammen.
»Darlings, ich kann euch gar nicht sagen, wie entzückt ich darüber bin, dass ihr zusammen seid.«
Eves herzliches Lachen durchdrang das Zimmer. Auf dem Bildschirm griff sie nach einer Zigarette und lehnte sich dann im Sessel zurück. Sie hatte ein sehr sorgfältiges Make-up aufgetragen, das die Schatten unter ihren Augen und die Fältchen um ihren Mund verbarg. Sie trug ein männlich geschnittenes Hemd in Fuchsia, das einen Stehkragen hatte. Julia sah sofort, dass es dasselbe Hemd war, das sie getragen hatte, als sie auf dem blutbefleckten Teppich gelegen hatte.
»Diese kleine Aufnahme mag überflüssig werden, wenn ich den Mut finde, mit euch beiden von Angesicht zu Angesicht zu reden. Sollte das nicht der Fall sein, so verzeiht mir bitte, dass ich euch nichts von meiner Krankheit erzählt habe. Für mich ist der Tumor ein Makel, den ich für mich behalten wollte. Wieder eine von diesen Lügen, Julia. Diesmal aber nicht nur aus egoistischen Gründen.«
»Was meint sie?« flüsterte Julia. »Worüber redet sie da?«
Paul schüttelte nur den Kopf. Er saß angespannt da.
»Als man mir diese Diagnose mit ihrer Prognose und all den anderen »nosen« mitteilte, habe ich alle Gefühle durchlebt, die man in solcher Situation durchmacht. Unglauben, Ärger, Kummer. Ihr wißt, wie sehr ich es verabscheue, »normal« zu sein. Es ist eine niederschmetternde Erfahrung, wenn einem gesagt wird, dass man weniger als ein Jahr zu leben hat, ja weniger, um noch ein normales Leben zu führen. Ich musste das irgendwie ausgleichen. Ich musste das Leben feiern, glaube ich, mein Leben. So kam ich auf die Idee mit diesem Buch. Ich wollte klarstellen, wer ich gewesen bin, was ich getan habe, nicht nur für das ewig hungrige Publikum, sondern für mich selbst. Ich wollte, dass meine Tochter, die ein Teil von mir ist, diese Geschichte erzählt.« Ihr Blick wurde intensiver, als sie sich vorlehnte. »Julia, ich weiß, wie erschüttert du warst, als ich es dir erzählt habe. Glaub mir, du hast jedes Recht, mich zu hassen. Ich will dir keine Entschuldigungen anbieten. Ich kann nur hoffen, dass wir auf irgendeine Weise zu einem Einvernehmen gekommen sein werden, wenn du das hier anschaust. Ich habe nicht vorhersehen können, wieviel du mir bedeuten würdest. Wieviel Brandon ...« Sie schüttelte den Kopf und sog fest an ihrer Zigarette. »Ich will nicht gefühlsduselig werden. Ich
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