Erinnerungen an die Wahrheit
aufgeschrieben wurde, teilweise längst nicht mehr gab. Auf griechischer Seite werden 29 Kontingente mit insgesamt 1186 Schiffen aufgezählt. Auf trojanischer Seite werden 15 Kontingente aus Kleinasien und den Gebieten nördlich der Ägäis genannt. Etwa 100.000 Kriegsteilnehmer könnten am Kampf beteiligt gewesen sein. Daß ein derartiger Krieg damals Spuren in Überlieferungen und Dichtungen hinterlassen hat, ist eigentlich selbstverständlich. Doch was die menschlichen Tragödien betrifft, wird man den Bericht der Dichtungen wohl nicht ganz so uneingeschränkt als wahrheitsgetreu verstehen dürfen. Denn die mündlichen Berichte dürften sich in den vier Jahrhunderten, bis ein genialer Dichter wie Homer daraus ein dichterisches Werk mit vielen tausend Hexametern verfaßte, in ihren Inhalten verändert haben. Nicht zuletzt dürfte auch die Sicht des Dichters die Gestaltung des Inhalts beeinflußt haben. Doch es gibt den Bericht eines Sehers, vor dessen innerem Auge die Geschehnisse lebendig auferstanden („Verwehte Zeit erwacht“). Im Mittelpunkt dieser Schilderung von Trojas Untergang, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt (und der auch die Zitate entnommen sind), steht überraschenderweise weder Odysseus noch Hektor, auch nicht Achill oder die schöne Helena – sondern: Kassandra, die jüngste Tochter des trojanischen Königs Priamos.
Kassandra – Liebling der Götter, Seherin und Heilerin
Die „Ilias“ und die „Odyssee“ erzählen viel von den Göttern, die ihren himmlischen Sitz im „Olymp“ haben – wie die Menschen in der antiken Kulturwelt glaubten. Und bei Homer greifen launische, ja bisweilen heimtückische Götter immer wieder einmal hemmend, verwirrend oder korrigierend in das irdische Geschehen ein. Die unzulänglichen Menschen sind also nicht in allem selbstverantwortlich für ihr Schicksal, sondern das Ungemach, die Schicksale, die sie erleben, sind teils ein Werk der Götter. Und diese zeigen sich – bei Homer ebenso wie in anderen überlieferten „Göttersagen“ – den Menschen verdächtig ähnlich. In solcher Art Darstellung der Götterwelt liegt einer der Gründe, warum man später dazu neigte, den Götterglauben in Bausch und Bogen als menschliche Erfindung abzutun. Doch viele „Götter“ hat es tatsächlich gegeben (und es gibt sie auch heute noch). Der zuvor erwähnte seherische Bericht bestätigt das: Es sind jenseitige Wesen mit überirdischer Schönheit und Macht, die bestimmte Stärken und Fähigkeiten vermitteln und fördern können, und die auch die ihnen zu- und untergeordneten Kräfte lenken können. Manche Menschen früherer Zeiten konnten mit feineren Augen die „Götter“ erschauen oder doch zumindest ihre im Irdischen wirkenden Helfer, die Naturwesen.
Diese Fähigkeit besaß auch Perikles, ein Hirte im Reich des Königs Priamos. Eines Tages kam er eilig zur Burg und meldete dem König, was ihm ein überirdisch schöner Himmelsbote verkündet hatte: „Es geht ein Licht auf über Troja! Wenn Ihr dieses Licht erkennt, dann wird Euch die Fülle des Lebens gegeben. Wenn ihr es aber nicht erkennt, so seid ihr des Todes!“ Auch der Königin Hekuba war vor der Geburt ihrer Tochter Kassandra von Hestia – der „Göttin des Heimes und des Herdes“ – verkündet worden, daß sie auserwählt worden sei, ein „reines hohes Licht“ zu empfangen. Hestia war der Hekuba an der großen Feuerstelle des Königspalastes erschienen.
Die Königstochter Kassandra mußte wohl ein „Liebling der Götter“ sein, und König Priamos wollte daher seine jüngste Tochter, als sie herangewachsen war, zur Priesterin am Apoll-Tempel in Troja ausbilden lassen. Doch das heitere Kind war zu einer feinempfindenden jungen Frau herangewachsen, der das fragwürdige Gebaren der Priesterschaft sowie die teilweise unsinnige Art der Götterverehrung unangenehm aufgefallen war. Sie verweigerte sich daher der Aufgabe des Tempeldienstes. Sie war von anderem erfüllt als dem, was ihr Vater, der König, ihr bieten wollte: Sie sah die Naturwesen überall in ihrem Wirken und sie sah und erkannte auch Apoll, den „Gott der Weissagungen und der Künste“ oder Asklepios, den „Gott der Heilkunst“. In der Verbindung zu ihnen war in ihr die Gabe der Weissagung wie auch die der Heilkunst erwacht und gewachsen. Und mit diesen Gaben wollte sie wirken: Als Seherin und Heilerin.
Und noch etwas erfüllte Kassandra. Sie hatte den himmlischen Ort ihrer Herkunft, noch weit über dem „Reich der
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