Erinnerungen an eine Ehe: Roman (German Edition)
sehr an meinem Charme, glaube ich. Meine bescheidene Berühmtheit spielte auch eine Rolle. Seine Freunde hatten Rezensionen gelesen, manche kannten sogar meine Bücher, ich war ein Quasi-Bohemien, den man mit ihnen zusammen einladen konnte. Nein, gegen Thomas war nichts einzuwenden, wenn man ihn zu seinen Bedingungen akzeptierte, als einen sehr intelligenten, sehr ehrgeizigen, erfolgsorientierten, ganz gut aussehenden Investmentbanker mit sehr guten Manieren, die allerdings angelernt sein mussten. Aus tiefstem Herzen kamen sie jedenfalls nicht. Charles Bovary? Auf keinen Fall. Thomas war kein Trottel; er hatte Selbsterkenntnis, und ich gehe jede Wette ein, dass ihn nichts von dem überrascht hätte, was ich dir über seine Wirkung auf Lucys Freunde erzählt habe. Er hat ganz sicher keine Klumpfußoperation verbockt. Bildlich gesprochen, natürlich. Soviel ich weiß, hat er in seinem Leben nur eine einzige Dummheit begangen: die Heirat mit Lucy De Bourgh.
Hatte Bill mir geholfen, Lucy besser zu verstehen? Ich hielt es für wahrscheinlich, weil er mir einen Aspekt ihres Lebens mit Thomas vor Augen führte, von dem ich nichts gewusst hatte. Er hatte recht, wenn er Thomas nicht für eine Art Charles Bovary hielt – dessen war ich mir sicher –, und Lucy mit ihrer Intelligenz, ihrem hochmütigen Festhalten an Kasten und, das muss gesagt sein, ihrem Geld, war himmelweit entfernt von der schönen und törichten Provinzlerin, die zu viele Romane gelesen hatte. Aber meinem Ziel, Thomas klarer zu sehen, war ich nicht viel näher gekommen. Abgesehen von einem Gedanken, der in meinem Kopf langsam Gestalt annahm: Rätselhaft war Thomas nicht; er war ganz einfach, was er zu sein schien: ein schönes Beispiel für den wahr gewordenen amerikanischen Traum. Hart arbeiten und Erfolg haben! Und er hatte die ganze dafür nötige Ausrüstung besessen: hohe Intelligenz und gutes Aussehen. Dazu kam, dass er es geschafft hatte, eine schöne, höllisch kluge Frau wie Jane glücklich zu machen. Keine schlechte Empfehlung, und dass Jane offenbar mit ihrem Ehemann Horace, einem Anwalt, glücklich gewesen war, bis er ihre rote Linie überschritten hatte, und dass sie nach eigener Aussage auch mit ihrem derzeitigen Mann Ned, dem Bankier, glücklich war, nahm der Empfehlung weder Relevanz noch Gewicht. Abgesehen von Horace’ Seitensprüngen entsprachen alle drei einem Typ, den sie akzeptieren konnte. Jane war keine Romantikerin; sie war eine moderne Amerikanerin, die sehr genau wusste, was sie wollte.
XI
Bill fuhr nach Lenox zurück, und ein paar Tage danach traf eine an mich adressierte FedEx-Sendung in Sharon ein, ein ungewöhnliches Ereignis, wenn ich nicht gerade an einem Manuskript mit einem Lektor arbeite, der nicht zu geizig ist, diesen Zustelldienst zu nutzen. In dem Umschlag fand ich zu meiner beträchtlichen Überraschung einen langen Brief von Jamie. Er schrieb, er habe vorgehabt, mich in New York zu besuchen, aber dann, als er von Jane erfahren habe, dass ich für den Rest des Sommers aufs Land gezogen sei, beschlossen, mich um ein Treffen in Sharon zu bitten, doch wegen der Schwangerschaft Stellas, seiner Frau, hätten sich seine Pläne für eine Reise an die Ostküste zerschlagen. Nach zwei Fehlgeburten in einem späten Stadium sei sie verständlicherweise beunruhigt über seine Reisepläne. Das Baby sei erst im November zu erwarten; zweifellos würde es schwer werden, gleich danach wegzufahren, und er wolle sich nicht erst im nächsten Jahr bei mir melden. Dann kam eine Passage über alte Erinnerungen, die ich sehr anrührend fand: Er erzählte, wie er mit seinem Vater und mir an Wochenenden ab und zu P. J. Clarke’s geplündert habe und wie der Gedanke an die Cheeseburger ihm immer noch den Mund wässrig mache, er erwähnte die Tintin- und Astérix-Comics, die ich ihm immer aus Paris mitgebracht hatte, schrieb, wie er mit seinem Vater eine Woche bei Tante Bella – eine Bezeichnung, die mir unweigerlich Tränen in die Augen treibt – und mir zu Besuch in Pariswar, in dem Haus auf der Île de Ré, das uns damals gehörte, und wie viel Spaß es gemacht habe, mit meinem Boot zu segeln. Er hoffe, er dürfe mir etwa von seinen neueren Arbeiten zeigen, einschließlich der Adaptation eines Romans von Jack London, die wahrscheinlich sogar in Produktion gehen werde.
Dann kam er zum Punkt. Er habe von Jane erfahren, dass ich mit ihr und Lucy über seinen Vater gesprochen habe, und genau wie alle, die mit Lucy und dem »Fall« seines
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