Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erinnerungen der Nacht

Erinnerungen der Nacht

Titel: Erinnerungen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: MAGGIE SHAYNE
Vom Netzwerk:
Seiner Leidenschaft, längst überfällige Gerechtigkeit geschehen zu lassen. Dabei durfte er sie nicht in der Nähe haben. Es würde nicht schön werden.
    Daher musste er wohl oder übel warten und …
    Jameson blieb auf der Straße stehen, verharrte mit leicht schräg gelegtem Kopf, während der kalte Wind ihm das Haar zerzauste und auf seinen Wangen brannte. Er hatte etwas gehört … etwas so Leises, dass es keinem anderen Passanten aufzufallen schien. Oder es kümmerte keinen. Er konzentrierte sich, das Geräusch im Lärm von Motoren und Hupen und zischenden Druckluftbremsen wiederzuerkennen. Nachts war es nicht ganz so laut wie tagsüber, aber es war immer noch laut genug.
    Eine Sekunde verging, dann zwei. Und dann hörte er es wieder. Ein Stöhnen, ein gequältes, schmerzvolles Stöhnen.
    Und diese Stimme gehörte einem Vampir. Einer Vampirin, um genau zu sein.
    Jameson spürte eine Gänsehaut auf dem Rücken, als er nach dem Ursprung des Geräusches suchte. Ein leer stehendes Gebäude mehrere Meter entfernt. Bröckelnde Mauersteine und zerbrochene, schmutzige Fensterscheiben. Schnee auf den alten Dachgauben. Monsterfratzen entlang der Dachfirste, auch wenn von diesen grimmigen Wächtern kaum mehr etwas übrig war. Man konnte nicht einmal mehr ihre Konturen erkennen, abgesehen von aufgerissenen Mäulern und schneebedeckten Engelsflügeln.
    Sie war da drin.
    Jameson hatte keine Ahnung, woher er das wusste, wie er auch nur ihre Stimme hören konnte. Sie schien unhörbar. Jedenfalls für die Ohren von Sterblichen. Aber da lag ja das Problem. Er hatte die Ohren eines Sterblichen. Warum also hörte er sie, spürte sie da drinnen? Warum empfand er ihren Schmerz ?
    Jameson Bryant war kein Narr. Er hatte schon andere übernatürliche Wesen getroffen, die ihm fremd waren. Und er ging ihnen stets aus dem Weg. Sicher, es widersprach ihrer Natur, einem der Ihren Schaden zuzufügen – einem der Auserwählten. Einem der seltenen Sterblichen, in dessen Adern das Belladonna-Antigen floss. Dieses Antigen erkannten sie immer. Rochen es oder ahnten es vielleicht. Und die meisten Untoten beschützten und behüteten Sterbliche mit dem Antigen. Dunkle Wächter. Dunkle Engel. Er verzog die Lippen zu einem Lächeln, so ironisch kam ihm das vor.
    Aber es gab Ausnahmen für jede Regel. Und jede Gattung, jede Art kannte ihre Monster. Es entsprach nicht Jamesons Gewohnheit, dass er sich einfach fremden Vampiren näherte und die Hand ausstreckte.
    Aber diesmal verhielt es sich anders. Er verspürte eine Art Zwang, als würde ihn eine unsichtbare Macht anziehen, die er weder kannte noch begriff. Sie könnte wahnsinnig sein. Sie könnte ein Killer sein. Sie könnte ihn angreifen. Aber er konnte nicht anders, er musste über die grauen, kreuzförmig vernagelten Bretter am Eingang des Gebäudes klettern und sich durch den Schutt einen Weg zu ihr bahnen.
    Und als er sie endlich sah, setzte sein Herzschlag für einen Moment aus.
    Sie kauerte in Embryonalhaltung in einer Ecke. Ihr schwarzes Kleid – eine Tracht oder etwas Ähnliches – war zerrissen und schmutzig. So schmutzig wie ihr verfilztes schwarzes Haar, das ihr Gesicht bedeckte. Sie sah unglaublich blass aus. So blass, dass sie in der Dunkelheit fast wie ein Phantom leuchtete. Und dünn. Richtig ausgemergelt. Ihre Hände … großer Gott, er konnte die Knochen dieser kalkweißen Hände sehen.
    Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu, da hob sie ruckartig den Kopf und sah mit aufgerissenen, furchtsamen Augen zu ihm auf. In diesem Moment gaben die Wolken den Mond frei, dessen Licht durch die geborstenen Fensterscheiben fiel und ihr Gesicht und die Augen in seinen ätherischen Schein tauchte. Sie war beängstigend dünn, aber dennoch wunderschön. Im Mondschein glich ihr Gesicht einer Skulptur. Hohe, vorstehende Wangenknochen und ein zierliches Kinn. Volle Lippen, leicht geöffnet, ein langer, schlanker Hals, den Jamesons Blick nicht mehr loslassen wollte. Dann bewegte sie den Kopf fast unmerklich, und das Licht fiel auf ihre Augen; er hielt den Atem an. Sie waren lila, leuchtend lila. So leuchtend, dass er die Farbe für unecht gehalten hätte, hätte er es nicht besser gewusst. Große, strahlende Augen von leuchtender Farbe. Da sie so mager war, wirkten diese Augen noch größer, und zweifellos wirkte ihr Knochenbau durch ebendiesen Zustand und die hohlen Wangen wie der einer Göttin oder eines Engels.
    Doch sie war kein Engel. Sie war eine Vampirin, möglicherweise eine

Weitere Kostenlose Bücher