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Erinnerungen der Nacht

Erinnerungen der Nacht

Titel: Erinnerungen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: MAGGIE SHAYNE
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gefährliche. Das wusste er.
    Und er wusste noch mehr.
    Er wusste, dass diese Vampirin kurz vor dem Verhungern war. Er wusste, dass sie die Grenze zum Wahnsinn womöglich längst überschritten hatte. Er wusste, er sollte gehen.
    Und er wusste verdammt gut, dass er das nicht tun würde.

Keith
    3. KAPITEL
    Drei Nächte lang streifte ich allein umher. Versteckte mich an den schmutzigsten, verderbtesten Orten der Stadt, in der Gewissheit, nichts Besseres verdient zu haben. Immerhin war ich jetzt eine schmutzige, schändliche Kreatur, oder nicht? Von einem Monster überfallen und in seinesgleichen verwandelt.
    Und ich wusste, es war meine Schuld. Denn es gab einen Augenblick, eine kurze Schnittstelle in der Zeit vor dem Biss, da hätte ich Nein sagen können. Ich hätte Tod und Erlösung dem Leben vorziehen können – ewigem Leben und Verdammnis. Ich hätte nicht trinken müssen, als er mein Gesicht an seinen Hals presste. Ich hätte nicht trinken müssen. Aber ich trank. Ich trank. Der übermächtige Wunsch, nicht zu sterben, beherrschte mich ganz. Ich wollte leben! Und so trank ich.
    Gott hatte mich auf die Probe gestellt, bevor ich mein Leben ihm widmete. Zweifellos hatte er meine Zweifel gespürt. Meinen wankenden Glauben. Und ich bestand die Prüfung nicht. Versagte jämmerlich.
    Aber eines wollte, konnte ich nicht. Nämlich dieses „Leben“ verlängern, indem ich mich von den Sterblichen ernährte. Den Unschuldigen. Den Lämmern Gottes, die selbst jetzt noch in Scharen draußen vorbeigingen. Und mich, die Wölfin, gelüstete nach ihnen. Gott, wie der Hunger in mir brannte! Ich wand mich förmlich in Krämpfen. Wenn einer an meiner Hütte vorbeiging und der Wind zunahm, witterte ich den Geruch des Blutes, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Tränen traten mir in die Augen. Meine Haut kribbelte, meine Nerven reagierten, spielten verrückt und schrien dann vor Verlangen. Jede Faser in mir wollte sich einen von ihnen holen, wie ich es bei dem Monster gesehen hatte. Ich wollte ihnen an den Hals und ihre salzige Haut mit den Lippen kosten. Meine neuen langen, messerscharfen Eckzähne tief in sie schlagen und trinken.
    Etwas, ein kleiner Teil der Person, die ich einmal gewesen war, existierte noch in mir, und an diesen Teil klammerte ich mich und stärkte mit ihm meinen Widerstand.
    Mit diesem Teil … und dem Kruzifix, das ich um den Hals trug. Das Symbol für alles, woran ich glaubte. Ich strich mit den Fingern über das glatte Holz und betrachtete den verzerrten Gesichtsausdruck Christi, der so winzig war, dass ich ihn vorher gar nicht gesehen hatte. Das alles hielt mich aufrecht. Es bewahrte mich aber nicht vor geistiger Verwirrung. Ich glaube, in jener Nacht war ich dem Wahnsinn sehr nahe, wie ein tollwütiger Hund beim Anblick von Wasser.
    Und dann kam er.
    Ich roch ihn, wie die anderen. Nein. Nein, das stimmt nicht ganz. Es verhielt sich etwas anders. Seine Witterung schien mir kräftiger als die der anderen. Er betörte meine Sinne noch viel mehr als die anderen, sodass ich mich in einer Ecke zusammenkrümmte, die Knie an die Brust zog, das Gesicht an den Beinen verbarg und betete, dass er vorübergehen würde. Schnell, bevor sein verlockender Duft mich vollends um den Verstand brachte.
    Er ging natürlich nicht weiter. Sein Geruch wurde mit jeder Sekunde stärker und köstlicher. Und dann hörte ich ein Geräusch. Leise – seine Schritte, als er auf dem mit Abfall übersäten Boden näher kam. Ich hob den Kopf, und da stand er, sein Atem kondensierte in der Dunkelheit zu kleinen Wölkchen. Er sah mich an, als hätte er nie einen jämmerlicheren Anblick als mich da mitten im Unrat gesehen. Und ich wollte ihn anschreien. Geh weg! Siehst du nicht, was ich bin? Spürst du die Gefahr nicht, in der du schwebst?
    „Haben Sie keine Angst“, sprach er mich an. Ich wollte den Kopf heben und brüllend loslachen, hatte jedoch nicht die Kraft dazu. Dieser Mann, dieser unschuldige, sterbliche Mann sagte mir , ich solle keine Angst vor ihm haben. Wie absurd!
    Aber ich lachte nicht. Ich gab keinen Laut von mir, sondern blieb einfach hocken und sah ihn an. Er war wunderschön. Ich sah alles an ihm detaillierter als zu meiner Zeit als Sterbliche. Selbst in der Finsternis des Abrisshauses sah ich ihn deutlich. Denn mittlerweile sah ich ausgezeichnet in der Dunkelheit. Seine Augen – nicht schwarz wie Kohlen, aber dunkel, samtbraun. Mit schwarzen Streifen, wellenförmigen schwarzen Streifen um die Pupillen herum wie

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