Erinnerungen der Nacht
weißt du. Und ich habe Schnee immer geliebt.“
Er blieb stehen und sah mich durchdringend an. „Und was ist dann passiert, Angel?“
Ich senkte den Kopf. „Rebecca war krank. Ich setzte mich über die Vorschriften hinweg und ging allein. Und ich verpasste den Bus und beschloss, zu Fuß zu gehen.“
„Allein?“, fragte er mit großen Augen. „Spätabends?“
Ich nickte nur.
„Und dann ist es passiert?“, fragte er und drängte mich fortzufahren.
„Er wartete auf mich.“ Ich erschauerte ein wenig und legte die Arme um den Oberkörper. „Er zerrte mich runter in den Abfall. Ich dachte … ich dachte an alles, nur nicht die Wahrheit. Ich konnte mich nicht gegen ihn wehren. Er war ein Vampir mit den Kräften, die ich jetzt habe. Ich nur eine sterbliche Frau. Natürlich habe ich es versucht. Ich habe ihn blutig geprügelt, aber das störte ihn nicht im Geringsten.“
„Er … er hat dir die dunkle Gabe aufgezwungen?“
Ich nickte, konnte Jameson jedoch nicht in die Augen sehen.
„Und dann ließ er dich allein und hat dir nichts über dein neues Dasein beigebracht?“
„Nein. Nein, er wollte mir etwas beibringen. Du hast mir gesagt, dass jeder Vampir ein Band zu einem bestimmten Menschen hat. Ich glaube, möglicherweise war ich sein Mensch. Er sagte, er habe mich mein Leben lang beobachtet. Aber er war krank … irgendwie verderbt. Als erste Lektion sollte ich einen obdachlosen Jungen ermorden. Natürlich zeigte er mir erst, was ich zu tun hatte, indem er selbst einen ängstlichen alten Mann tötete. Und dann suchte er mein Opfer für mich aus.“ Da hob ich den Kopf und sah ihn an. „Ich nahm ein brennendes Stück Holz aus einem Fass und schlug ihn damit, so fest ich konnte. Durch den Schlag ging er in die Knie, aber das Feuer hat ihn getötet.“
„Du hast ihn getötet“, murmelte er und sah mich bestürzt an. Dann schüttelte er den Kopf. „Gut. Das erspart mir die Mühe.“
„Ich dachte“, fuhr ich fort, „dass Gott mich verflucht hätte. Ich glaubte, ich könnte nur durch Töten überleben und schwor mir, nie so zu werden. Darum versteckte ich mich und wartete auf den Tod. Ich hatte keine Ahnung, dass die Gier nach Blut so alles beherrschend werden könnte.“
„Du hast überhaupt keine Ahnung gehabt“, sagte er.
Ich nickte zustimmend. „Aber ich habe beschlossen zu lernen.“
„Das sehe ich.“
„Weil ich weiß, dass sie in Sicherheit ist“, ließ ich ihn wissen. „Ich weiß, es geht ihr gut, und zum ersten Mal seit jener schrecklichen Nacht fühle ich mich … wohl.“
Das war eine Lüge. Es war nicht das erste Mal. Ich hatte mich schon einmal wohlgefühlt. Als er mich die … höchste Ekstase spüren ließ.
Ich wandte das Gesicht ab, denn ich spürte, dass er meine Gedanken lesen wollte. Und dann lief ich schnell zu dem verlassenen Haus, wo wir Jamesons Auto abgestellt hatten. Er holte mich im Handumdrehen wieder ein und war mir nun stets einen Schritt voraus. Ich ging zügiger, wollte die Führung wieder übernehmen, und da machte er es ebenso.
Ich warf ihm einen schelmischen Blick zu, sah das Funkeln in seinen Augen und sprintete so schnell ich nur konnte. Er nahm die unausgesprochene Herausforderung an, und wir lieferten uns ein Wettrennen bis zu dem alten Farmhaus.
Dort ließ ich mich im Gras auf den Rücken fallen, blickte zu den Sternen und dachte, dass ich bis zu dieser Nacht die ätherische Schönheit der Nacht noch nie richtig gewürdigt hatte. Nicht ein Mal.
Er stand da und sah auf sie hinab. Ja, sie war regelrecht außer sich wegen all der neu gewonnenen Einsichten, die ihr offenbar im Schlaf gekommen waren. Diesem sechsten Sinn, der ihr versicherte, dass ihre Tochter wohlauf und sicher und ganz in der Nähe war. Vielleicht akzeptierte sie ihr neues Dasein ja so langsam. Sah ihre neue Realität und setzte sich damit auseinander.
Und je mehr Ängste und Unsicherheiten beseitigt wurden, desto klarer kam die Frau zum Vorschein, die sie gewesen war. Er spürte es, wusste es, wie er so vieles über sie wusste. Selbst unter ihren Schwestern war sie eine Rebellin gewesen. Hatte stets das Schicksal herausgefordert und Witze gemacht und Streiche gespielt. Im Herzen immer noch ein Kind. Das sah er so deutlich, als sie ihm ihre Geschichte erzählt hatte.
Die ängstliche, verzweifelte Frau, die er kennengelernt hatte, war nicht einmal ein Schatten der wahren Angelica. Herrgott, wie falsch er sie doch eingeschätzt hatte. Die Wahrheit kam einer Offenbarung
Weitere Kostenlose Bücher