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Erinnerungen der Nacht

Erinnerungen der Nacht

Titel: Erinnerungen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: MAGGIE SHAYNE
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Spechts. Das blubbernde Gelächter des Bachs. Jedes einzelne Geräusch klar und deutlich. Kein chaotisches Durcheinander, wie ich es vorher gehört hatte. Verstärkt, ja, aber individuell. Ich hörte Wild laufen. Den Flügelschlag eines Vogels. Einen Pinienzapfen, der von einem Meilen entfernten Baum zu Boden fiel.
    „Erstaunlich“, flüsterte ich.
    „Ja.“
    Ich seufzte. „Weißt du, was noch erstaunlicher ist?“, fragte ich ihn. „Dass ich Mutter bin.“ Ich senkte den Kopf und schüttelte ihn traurig, als ich fortfuhr: „Das hat mein Plan nicht vorgesehen, weißt du. Nichts lag mir ferner, aber das war falsch. Und ich glaube langsam, vielleicht … vielleicht hat mir dieser Dreckskerl in jener Nacht einen Gefallen getan.“ Ich zitterte, als ich das sagte und mir die grässlichen Erinnerungen in den Sinn kamen. Aber ich verdrängte das Bild auf der Stelle. „Ich bin jetzt eine Mutter und kann mir gar nicht mehr vorstellen, keine zu sein.“
    Er legte mir die Hände auf die Schultern und blickte mir suchend ins Gesicht. „Du … hast dich verändert, Angelica.“
    Ich nickte. „Ja. Sehr verändert. Und es ist höchste Zeit, dass ich aufhöre zu jammern und mich damit abfinde, meinst du nicht auch?“
    Ich löste mich nicht von ihm, sah ihm nur in die Augen.
    „Du hast mir nie etwas erzählt.“ Wir drehten uns um und setzten unseren Marsch durch den Wald fort, wobei er sich bei mir unterhakte, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.
    „Worüber?“
    „Über dich. Ich habe dir all meine Geheimnisse preisgegeben, Angel. Aber ich weiß immer noch nichts über dich. Also erzähl es mir.“
    Und ich nickte. Es wurde Zeit. Vielleicht brauchten dieser Mann und ich einen Neuanfang. Wenn ich ihn einfach wie einen Mann behandelte, nicht wie ein Monster, konnten wir uns vielleicht einigen. Vielleicht sogar Frieden schließen.
    „Ich war neun, als meine Mutter mich in St. Christophorus ablieferte“, erzählte ich ihm.
    „Warum hat sie das getan?“
    Ich zuckte mit den Schultern. „Man sagte mir, sie war sehr arm, unverheiratet und möglicherweise heroinsüchtig, aber daran kann ich mich natürlich nicht erinnern. Ich nehme an, das sollte ich. Vielleicht habe ich es verdrängt. An ihr Gesicht erinnere ich mich. Schmal und blass, mit dunklen Ringen unter den Augen und Haar wie meins, nur kurz geschnitten. Und ich entsinne mich an ihre Stimme. Barsch. Niemals sanft. Niemals zärtlich. Ich weiß noch, dass ich Wochen und Monate weinte, als sie mich dort ausgesetzt hatte. Aber genützt hat es nichts.“
    Er schob einen Pinienzweig aus meinem Weg; ich ging daran vorbei und beugte mich ein wenig dichter zu ihm hinüber, als notwendig gewesen wäre. Ich genoss seine Wärme.
    „Also haben sich die Schwestern um dich gekümmert?“
    „Ja. Sie zogen mich auf. Ich setzte mir in den Kopf, dass ich etwas Schlimmes getan haben musste, weil meine Mutter mich verlassen hatte. Und entschied, wenn ich mir nur allergrößte Mühe gab, gut zu sein, würde sie eines Tages wiederkommen.“
    „Aber sie kam nicht.“ In seinem Blick lagen Traurigkeit und Schmerz. Für mich. Spürte er meinen Schmerz? Oder war es nur das Wissen darum?
    „Nein. Sie kam nicht. Und ich muss gestehen, ich war nicht besonders gut darin, gut zu sein.“
    „Nein?“, fragte er, Fassungslosigkeit heuchelnd.
    „Ich war reichlich abenteuerlustig. Schlich mich nachts raus und zog durch die Straßen. Erforschte den Glockenturm, schaukelte an den Seilen dort.“
    „Die armen Nonnen müssen mehr als einen Herzinfarkt bekommen haben.“
    „Gesagt haben sie es jedenfalls oft genug.“
    „Und doch wolltest du ihnen beitreten?“
    „Ja.“ Ich dachte zurück, gab mir große Mühe, suchte tief in meiner Seele. „Ich glaube, ich bin nie über den Irrglauben hinweggekommen, dass ich nicht gut genug für meine Mutter war. Dass ich gut sein müsste. Und mir fiel keine bessere Möglichkeit ein zu beweisen, wie gut ich tatsächlich war, als mich dem Orden anzuschließen.“
    „Das ergibt irgendwie einen Sinn.“
    „Aber ich war da nie wirklich zufrieden. Ich wollte immer nur raus. Doch unsere Ausflüge außerhalb der Mauern der Abtei waren stark eingeschränkt. Ich konnte es daher stets kaum erwarten, wenn ich an der Reihe war, mit Schwester Rebecca im Obdachlosenasyl zu arbeiten.“ Ich schaute zu ihm auf, und seine Augen wirkten dunkel, als wüsste er, welche Ängste diese Erinnerungen in mir weckten. „Besonders in jener letzten Nacht. Es hatte geschneit,

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