Erinnerungen der Nacht
Stärke der Ketten, indem sie versuchsweise daran zog. Das kalte Eisen schnitt ihr ins Fleisch.
„Ich halte dich schwach genug, dass du sie nicht aus der Wand reißen kannst, Rhiannon. Darauf kannst du dich verlassen.“
Sie drehte sich zu ihm um und spürte Zorn in sich aufsteigen. „Was ist mit Roland?“
„Dein Freund, der vor der Hütte gewartet hat? Curtis hat ihn mit einem Pfeil außer Gefecht gesetzt, genau wie dich, und liegen lassen, damit die Sonne den Rest erledigt. Vermutlich ist er inzwischen tot. Von ihm kannst du keine Hilfe mehr erwarten.“
Seine Worte trafen sie wie Peitschenhiebe. Sie schloss die Augen und ließ ihren Tränen freien Lauf.
„Oh, wie rührend“, sagte Lucien, hielt sie am Kinn und hob ihren Kopf hoch. „Und wenn du ihm nicht folgen willst, nachdem du zugesehen hast, wie ich den Jungen töte, dann verwandelst du mich jetzt.“
Sie riss die Augen auf. „Du hast Jamey immer noch?“
„Natürlich.“
Sie studierte sein Gesicht und fragte sich, ob er die Wahrheit sagte. Sie war mit dem Gefühl erwacht, dass Jamey wohlbehalten und in Sicherheit war. Hatte sie das nur geträumt? War es Wunschdenken? Oder hatte jemand versucht, sie zu beruhigen?
„Ich kann dich ewig hierbehalten, Rhiannon. Ich habe genügend Drogen und alle Zeit der Welt. Wenn das Leben des Jungen kein überzeugendes Argument ist, dann können wir versuchen, dich durch Schmerzen zu überzeugen. Ich weiß, wie sehr du das verabscheust.“
Sie fühlte sich so schwach, dass sie kaum den Kopf heben konnte, als er die Hand wegnahm. Die Erinnerung an die Zeit, als der Vater dieses Mannes und sein Partner Daniel St. Claire sie gefangen gehalten hatten, bedrängte ihre Sinne, als wollte sie sie in den Wahnsinn treiben. Sie verdrängte sie mühsam aus ihrem Gedächtnis. „Und wenn ich kapituliere? Wenn ich dich in die Welt der ewigen Nacht einführe, was dann? Soll ich etwa darauf vertrauen, dass du mich dann freilässt, wo du doch schon eingestanden hast, dass es dein höchstes Ziel im Leben ist, mich tot zu sehen?“
„Du kannst glauben, was du willst. Ich befreie den Jungen, wenn du tust, was ich dir sage. Wenn nicht, werdet ihr beide sterben. Es ist deine Entscheidung, holde Rhiannon.“
Sie ließ den Kopf sinken, bis das Kinn auf ihrer Brust ruhte. Dann war es hoffnungslos. Sie musste nicht mehr gegen ihre Angst ankämpfen, denn die wurde von Kummer verdrängt.
„Ich muss etwas erledigen. In einer Stunde komme ich wieder, dann erwarte ich deine Entscheidung.“ Damit verließ er sie; seine Schritte hallten in dem dunklen Gewölbe aus Stein.
Ja, Gewölbe. Wohin um alles in der Welt hatte er sie gebracht? Ein Gewölbe gehörte zu einem Schloss. Befanden sie sich noch in Frankreich, vielleicht sogar im Tal der Loire? Dort lagen Tausende mittelalterlicher Burgen, die von Roland mit eingeschlossen.
Roland.
Allein der Gedanke an ihn erfüllte sie mit Seelenqualen. Sie rief nach ihm, ließ die Stimme ihres Geistes als trauriges Wehklagen durch die Nacht erschallen. Wieder und wieder rief sie nach ihm, bekam jedoch keine Antwort.
Konnte er wirklich tot sein? Für immer dahin, bevor sie ihm die Wahrheit sagen konnte, die sie sich selbst so lange nicht hatte eingestehen wollen?
„Ich liebe dich, Roland de Courtemanche, Baron, Ritter, Unsterblicher, Mann. Ich liebe euch alle“, flüsterte sie. Sie hob den Kopf himmelwärts, als wollte sie es den Göttern entgegenschreien. „Bringt ihn mir wieder, und ich schwöre, ich werde sein, was er will. Nie wieder will ich mich in Gefahr begeben und ihr ins Gesicht lachen. Nie wieder will ich tollkühn sein und unsicheren Schrittes am Rande des Wahnsinns dahinschreiten. Ich werde die stille und fügsame Frau, die er sich wünscht, die er braucht. Nie wieder will ich von seiner Seite weichen, wenn ich nur noch eine Chance bekomme!“
Ihre Worte endeten in einem abgehackten, schluchzenden Schrei, und sie ließ den Kopf wieder auf dem schlaffen Hals nach vorn kippen. Das Schluchzen schüttelte ihren ganzen Körper, und sie fiel nur wegen der Ketten nicht zu Boden. Denn sie wusste in der Tiefe ihres Herzens, dass sie ihre Chance vertan hatte. Roland hatte nicht auf ihre verzweifelten Rufe geantwortet. Er war ihr genommen, aus ihrem Herzen gerissen worden, bevor sie selbst überhaupt wusste, dass es ihm gehörte.
Ihr Kummer lähmte sie, sie konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu weinen, wahre Sturzbäche von Tränen ergossen sich aus ihren Augen.
Und doch wusste sie:
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